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In nur wenigen Jahrzehnten scheinen die Informations- und Kommunikationstechnologien den Buchdruck, das Fernsehen und das Telefon  digital neu erfunden zu haben. Die Computerisierung digitalisiert die bislang nur über die herkömmlichen Medien erfahrbare ´analoge´ Welt und verdoppelt sie zur kommunizierbaren Bildschirmrealität. Wissen und Welt, Kultur und Kommunikation, Politik, Alltag und Konsum gehen zusehends - als Informationen - online. Informationen wollen über Glasfaser und Satellit vermittelt sein, sie wollen sich auf Bildschirmen zeigen und mit ihnen wollen sich die Informationsproduzenten und -vermittler präsentiert wissen. Die ultraschnelle elektronische Datenverarbeitung bricht herein wie eine Naturgewalt.

Die realitiy.online-Strategie bringt das Irdische auf neue Weise auf Trab, sie entzündet neue Utopien und setzt altbewährte Gepflogenheiten und vertraute Gesellschaftsentwürfe auf die digitale Bewährungsprobe. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Instanzen haben das digitale Alphabet zu erlernen und den Status Quo an den neuen Kommunikationsbedingungen zu messen - Wissen wird nun von Dienstleistungsservern, Informationsmaklern und jedem, der am Informierungsspiel teilnehmen will, angeboten. Informationen werden als Rohstoff der sogenannten ´Informationsgesellschaft´ über den Datenhighway gejagt und im globalen Informationsdorf kommunikativ bearbeitet, um immer aufs neue auf elektronische Weltreise zu gehen: Die Information scheint eine der vielversprechendsten Entdeckungen der letzten Jahrhunderte zu sein. In weltgeschichtlichem Maßstab besehen wurde die Menschwerdung in Sekundenschnelle aus dem Industriezeitalter herauskatapultiert und die Maschinenindustrie auf Informationsproduktion umgerüstet. Daß der Sozialismus dabei an Wirkungskraft verlieren mußte, ist aus informatorischer Sicht kaum erstaunlich, denn längst werden keine ´Proletarier´ mehr produziert, sondern Informationen. Arbeiter werden abgebaut, Informationen dagegen boomen.

Es herrscht Goldgräberstimmung. Erste Claims sind abgesteckt, Zugangsbedingungen und kommunikative Rituale regeln die Informationsverteilung, und an den Ausfahrten der Info-Bahnen wartet man gespannt auf die Umwertung der Daten zu Geld - wer zu spät kommt, den bestraft die elektronische Umlaufgeschwindigkeit. Auf den weltweit verteilten Bildschirmen der Terminals treibt das elektronische Gold Information bunteste Blüten. Immer bessere Computer erweitern das digital country und lassen bislang unbekannte Welten entstehen. Marvin Minsky, Chefideologe des Media Lab am MIT, geht so weit zu sagen: "alles, was Sie über Computer ... hören, sollten Sie ignorieren. Denn wir befinden uns noch in der Steinzeit. Wir leben in den tausend Jahren zwischen ´Keiner Technologie´ und ´Jeder Technologie´ ... Sie sollten nicht vergessen, daß sie [die Zeitgenossen] ignorante Wilde sind" (in: Brand 1990, 137).

Es geht also erst jetzt so richtig los. Rasant geht es voran, volle Kraft voraus in Richtung Computerwelt. Die radikal sich verändernden Produktionsbedingungen legen dem - nun vernetzten - Konkurrenzkampf neue Bedingungen auf und definieren das gesellschaftliche Handeln um: Das multimedial Vermittelte zeichnet sich dadurch aus, wahrgenommen werden zu wollen und über Wahrnehmungseinheiten - Einschaltquoten und Telefoneinheiten - in Bares umgerechnet werden zu können. Nur Informationen, die irgendwo ankommen, um weiterbearbeitet beziehungsweise konsumiert zu werden, erfüllen ihren Informierungsauftrag. Schlimmer als ausgebeutet zu werden, so Dietmar Kamper, sei heute ´Nichtbeachtung´. Das kostbarste Gut sei ´Aufmerksamkeit und keineswegs mehr politische Freiheit´ (vgl. 1996, 357). Wer im ´Spiel des Informierens´ nicht mithalten kann, wer nicht kompetent ist im Datensurf und die ´Freiheit´ der Informationsproduktion nicht zu nutzen weiß, droht zum passiven Konsumenten der Informationen zu werden, zum Informationsproletarier, der nicht einmal Protest digitalgerecht wird artikulieren können.

Vorbei die Zeiten der Technikfeindlichkeit. Die Angst vor dem Big Brother ist der Multimedia-Euphorie gewichen. Der datensicheren Zukunft der globalen Kommunikation zuliebe können die Computer neu genug nicht sein. Nicht mehr verwurzelt, sondern verkabelt setzt der Mensch auf einen immer noch perfekteren kommunikativen Apparatpark, dessen je aktuelle Standards nur Zwischenlösungen einer erst in Zukunft realisierbaren Perfektion sind. Schon bei ihrem Erscheinen sind die Programme mit Verfallsdatum versehen, wird deren knappe Halbwertzeit durch nachrückende ´Generationen´ garantiert.

Doch hat man bereits mit den laufenden Standards jede Menge zu tun. Programme sind zu installieren, neue ´Pfade´ zu entdecken, Daten sind in neue Software ´hinüberzuretten´ und vor dem Vergessen durch die digitale Zivilisationskrankheit Inkompatibilität zu bewahren. Vor allem aber ist die Vielfalt der kommunikativen Kompetenzen der Apparate erst einzuüben. Jeder neue, beinahe täglich einsetzende Innovationssprung fordert Anpassung. Die an den Computern sitzende Zivilisation scheint sich im Zustand einer kollektiven Lernphase: in der Pubertät zu befinden. Das Defizit des souveränen Umgangs mit den Neuen Medien erkennend, geben Tageszeitungen und Zeitschriften Navigationshilfe in Internet- und Multimedianutzung, und eine Schwemme an Computerzeitschriften und -büchern buchstabiert die Algorithmen des Digitalen trendprägend zurück ins Analoge des Begreifbaren.

Doch weniger das Wissen ist im Umgang mit den neuen Medien wesentlich denn der Umgang mit dem Wissen und die Strategien, die Apparate optimal zu nutzen. Noch vor dem Wissen und Wissen-Wollen will das Kommunikationsgeschick geübt sein, denn die Digitalisierung macht das Kulturerbe neu rezipierbar und neu erlebbar, doch vor allem neu kommunizierbar. Konzentrierte sich die Aufklärung auf die Erweiterung des Wissens, so läßt das Digitale die Mobilität dieses Wissens zum weltgesellschaftlichen Happening werden: Aufklärung wird mit Kommunikation identisch, denn nur was elektronisch ´fließt´, kann - vermittelbar - informieren. Was immer der mobilen Aufklärung dient, ob mündlich, in Schrift- oder Bildform, ob als wissenschaftliche Analyse, als Fernsehprogramm oder als Videospiel, es geht nun in einheitlichem Bitformat auf Informierungsjagd. Der herkömmliche Postweg wird angesichts von Fax, e-mail und Datenkompression so antiquiert wie die Postkutsche.

Die auf Festplatten, in Großrechnern und Mikroprozessoren erfolgende Informationsproduktion und -verteilung revolutioniert nicht nur die Produktionsverhältnisse, sondern stellt auch die Informationsaufnahme unter neue Bedingungen. Das Wissen erfährt im mobilen Erregungszustand eine eigentümliche Transformation. Es definiert sich als rechnerisch handhabbare und elektronisch versendbare Information. Auch das körperliche, bislang ´Miteinander Reden´ genannte Kommunizieren wird mit dem Wissenstransfer transformiert: Es definiert sich nun über die Apparatvernetzung. Sie erobert nach und nach die Informierungskompetenz von Radio und Fernseher, sie will den Gang in Bibliotheken und Museen und noch die Luft zwischen den Gesprächspartnern ersetzen.

Die Digitalisierung erobert Natur und Kultur durch ein Medium. Wissen und ´Reden´ werden gleichermaßen digital codiert und gleichermaßen rechnerisch gehandhabt. War bislang das Mündliche und Schriftliche das dominante Vermittlungsmedium der Bildung, nun erobern elektronisch errechnete Bilder über errechnend sich ´aufbauende´ Bildschirme den Alltag. Der Kommunikationsphilosoph Vilém Flusser markiert die heutige Zeit deshalb als eine ´Bruchstelle zwischen zwei konkurrierenden Bewußtseinsebenen´: als ´Übergang des schriftlichen Denkens in mathematisches Denken´ (vgl. 1988, 123ff). Während das Mündliche und Schriftliche mit der Imaginationskraft des mitdenkenden Lesers spielt, setzt das mathematisch operierende Digitale auf die Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit eben dieser Imaginationskraft. Das bislang nur Wißbare wird als Bild sichtbar.

Der Bildschirm ist das Rezeptionsforum der elektronischen Systeme. Obwohl Texte nach wie vor lesbar sind, sind sie in ihrer digitalen Version eingebettet ins elektronische, als Bilderfluß sich generierende ´Bilderbuch´. Die ´Leselogik´ wird geleitet von Icons und hypertextuellen links, die die Texte zu ´Bildbeschreibungen´ der schnell rezipierbaren Wahrnehmungselemente degenerieren lassen. Das digital Vermittelte eignet sich denn auch weniger zur langatmigen Kontemplation, sondern ist zur Wahrnehmung verdammt: Anstelle des physischen Raumes entwickelt sich der mathematische Wahrnehmungsraum zum Ort der Erfahrung. Waren Bücher und Bilder bislang materiell, das Digitale zeigt sich virtuell. Es läßt sich realiter nicht anfassen. 

Ohne die elektronische Kommunikation bräche das gesellschaftliche Alltagsleben bereits heute zusammen. Die weltweit vernetzten Computer übernehmen den kommunikativen Datenaustausch, das Irdische wird - langsam aber sicher - flächendeckend digitalisiert, digitale Sprachen ´sprechen´ mit jeder Tastenwahl, die man tut, und technologische ´Kulturen´ und virtuelle ´Ökotope´ haben die ersten Probephasen bestanden. Dennoch ist das handfest-materielle ´Draußen´, sind Kultur und Tradition der Boden, auf dem Technologie gedeiht - und nicht umgekehrt. Noch gelten die Rest-´Wahrheiten´ der Moderne, noch sind wir Wesen jenseits der ´Sprache´ der Apparate, noch können wir Religion und Natur denken, noch gilt die Wertschätzung den komplexen ´sieben Sinne´. Flusser betont, die Karriere der Apparate sei ´so neu, daß wir sie noch nicht als ein kulturelles, sondern als ein technisches Phänomen erleben´ (vgl. 1990, 68). Noch ist man erstaunt angesichts der techologischen Schübe, noch ist die Lebenswelt das primäre Handlungsfeld, noch wird die realweltliche Kommunikation im Gegensatz zur apparatischen Kommunikation geschätzt. Doch längst ist der bislang gültige Glaubenssatz, das menschliche Sinnes- und Datenverarbeitungsvermögen sei der Höhepunkt der Evolution, in Frage gestellt: Computer mausern sich nicht nur zum Kulturfaktor, sie bieten auch der menschlichen Geisteskompetenz ordentlich Paroli.

Der besagte ´Wilde´ wird zwar so rasch nicht aufgehen in den digitalen Codes und seine Kultur wird ihm wohl auch in Zukunft eher durch den Magen gehen als durch die Glasfaser. Dennoch hat er längst seine natürliche Umgebung verlassen, um die sogenannte ´Wirklichkeit´ über Bildschirme und Tastaturen zu erfahren und herzustellen. Daß die Realwelt dabei pathologische Züge annimmt, verwundert nicht. Unter dem Stichwort ´Wertewandel´ wird der Verlust einiger liebgewonnener Vertrautheiten allseits beklagt: Kulturtragende Rituale und Sitten verlören an Wirkung und Menschen litten realiter an seltsamen Kommunikationsschwierigkeiten. Einerseits steht der Schwund an kulturellem Zusammenhalt in enger Beziehung zu den technisch nachgerüsteten Kommunikationspraktiken, andererseits aber entstehen in den Datenwelten der vernetzen Rechner neue kommunikative Gepflogenheiten und neue ´Traditionen´. Das soziale und kulturelle Leben formiert sich nun in den Apparaten, es erobert sie. 

 Wohin die virtuelle Reise freilich führt, ist kaum auszumachen. Im luftleeren Raum der Netze versagen sowohl die irdische Orientierung als auch die altbewährten Untersuchungsmethoden. Selbst die Gesellschaftswissenschaften wissen den ´digitalen Putsch´ kaum auszumachen, geschweige denn zu betreuen. Schließlich wird er weder an klaren noch an irdischen Fronten ausgetragen, sondern zwischen Unterbewußtsein, Umsatz und Programmoption. Zwar stellen Medientheorietiker, Kommunikationswissenschaftler und Kulturkritiker dem elektronischen Realitätsschub analytisch nach, ihre Ergebnisse aber sind so uneindeutig, wie die Kommunikationssysteme unübersichtlich sind. Während ´noch weitgehend die Kategorien zu fehlen scheinen, das Wesen der Veränderungen zu erfassen´ (vgl. Fiehler 1994, 524), sind die ersten Netznutzer längst in die virtuellen Realitäten entfleucht.

Keine ´antidigitale Bewegung´ tritt an, den virtuellen Gang des Irdischen aufzuhalten. Vielmehr ist jedes ´back to the roots´ mittlerweile selbst digital codiert. Der drohende ökologische Kollaps wird in Computern simuliert, er wird im Virtuellen ´geprobt´, um Aufschlüsse über seine realweltlichen Verhinderungsmöglichkeiten zu geben. Wissen und Geschichte gehen ein in die Apparate, um nach mathematischer ´Verdauung´ hochgerechnete Kompetenz zu ergeben. Der Siegeszug der Datenverarbeitungsmedien scheint das Ziel der Aufklärung, scheint das Ziel selbst der Geschichte zu sein. Verantwortung und sogar politische Entscheidungen, so die Cyberfraktion, würden in Zukunft in Kommunikation mit künstlichen Gedächtnissen getroffen werden, da sie die Komplexität der Weltzusammenhänge weitaus exakter kalkulieren, sprich beurteilen könnten als Menschen. ´Entscheidungsmaschinen´ sind zwar vermutlich noch sturer als Politiker, jeder Mensch aber bekäme nun die Freiheit, den apparatischen ´Sturheitsgrad´ mitzubestimmen. Jeder darf sich schließlich verkabeln, sich auf dem Datenhighway austoben und dort Spuren hinterlassen.

Die Schlagzeilen vom vollelektonischen Reich, das da komme, überschlagen sich: Der digital highway ist nicht nur ´befahrbar´, sondern soll unmittelbar im menschlichen Nervensystem - und im Gehirn - enden. Das Gerücht einer Synergie, einer Fusion von Mensch und Apparat macht die Runde. Der Direktanschluß des Menschen an die Apparate zielt ab auf eine neue Entwicklungsstufe der Vermittlung von Welt, Kultur und Wissen. Nicht der Mensch als intellektuelles und wahrnehmungsfähiges Wesen soll informiert werden, sondern - auf direktestem Wege - sein am Zentralnervensystem ´hängender´ Körper. Ohne den Umweg der wahrnehmenden Informationsaufnahme soll die Datenverarbeitung des Menschen sensorisch auf Vordermann gebracht werden. Programmierer, Gentechniker, Kognitionswissenschaftler, Neurologen, Vertreter der ´Künstlichen Intelligenz´, Nanologen, Künstler etc. entwickeln dazu neue Schnittstellen zwischen Apparat und Körper. Voller Spannung wird der zum Cyborg synergierte Mensch - die Computer-Mensch-Liaison - verfolgt. Die Digitalisierung wird ein Evolutionsfaktor des Fleisches. Sie entwirft den Menschen als eine Art Virus in der Biographie seiner eigenen Geschichte.

 Schon die bloße Technik scheint ein Ideal der Emanzipation zu enthalten, so Florian Rötzer (vgl. 1996, 77). Sie verspricht die Befreiung von irdischen und körperlichen Zwängen - doch auch vom Menschen selbst. Die Perfektion der ´Denkwerkzeuge´ zwingt das Humane umsomehr auf die technologischen Standards, als das ´allzu Menschliche´ in der Fülle seiner Komplexität kaum je simulierbar sein wird. Es zeichnet sich gerade dadurch aus, unberechenbar zu sein. So gilt das nicht-Perfekte angesichts der reinen Mikroelektronik als redundant. Unter dem apparatischen Innovationsdruck droht es so zu veralten wie die kratzende Schallplatte.

Die Emanzipation der Perfektion über Unberechenheit und Fehlbarkeit zu beschleunigen und zu legitimieren, wird Parolen gefolgt, die ´Entwicklungen der Hochtechnologie möglichst affirmativ und radikal nach vorne zu denken und zugleich nervtötenden Naturharmonikern auf den Schlauch zu steigen, deren Zukunftsvorstellungen sich auf die Umwandlung der Erde in ein planetares Radieschenbeet beschränken´ (vgl. P. Glaser 1991, 205). Die Weichen sind von Natur auf Technik gestellt. Mit der digitalen Herausforderung: der Erschaffung neuer, virtueller Realitäten ist der Mensch nur ein ´Pflänzchen im Beet´ und das ´allzu Menschliche´ nur eine Form des Menschlich-Möglichen. Je nach Zeitgeist wird das Humanum - einschließlich der irdischen Belange - mit der digitalen Warteschleife konfrontiert oder bleibt außen vor.

Unter dem Stichwort ´menschliches Versagen´ wird dem Menschen Verantwortungsfähigkeit sogar abgesprochen und das bislang gültige Ideal der menschlichen Zurechnungsfähigkeit für unzulänglich erklärt: "Menschen ermüden, altern, werden krank oder sterben, häufig sind sie dumm, unzuverlässig und in ihrem Gedächtnis beschränkt. Darüber hinaus versuchen sie manchmal, ihre eigene innere Logik aufzubauen. Solche Eigenschaften sind bei einem Material untragbar. Jedes Sytem, das Menschenmaterial benutzt, muß sich angemessen dagegen sichern". (R. Boguslaw in: Volpert 1987, 14). Die ´eigene innere Logik´, bislang als Geistesvermögen und unübertroffene Fähigkeit des Menschen hochgeschätzt, scheint an Achtung zu verlieren und der Reibungslosigkeit des apparatischen Funktionierens ein Störfaktor zu sein. Wenn Volpert dem Zitat über die menschliche Inkompetenz freilich anfügt, nach so viel Phantasterei könnten wir uns gleich den Science Fiction-Schriftstellern zuwenden (vgl. ebd.), unterliegt er einem Irrtum: mit den neu entwickelten Technologien sind wir dem Science Fiction näher als dem ´Radieschenbeet´ des vertraut Irdischen. Noch ´dümpelt´ der Mensch zwar im kulturellen und lebensweltlichen Biotop dahin, mit einem neuen, gewissermaßen einem ´dritten´ Bein aber stolpert er schon durch virtuelle Gegenden. Inwieweit dem ´aufrechten Gang´ des handlungsfähigen Homo Sapiens dort informationstechnologisch ein Bein gestellt wird, ist an die Frage gekoppelt, inwieweit den ´künstlichen Intelligenzen´ tatsächlich ´Beine gemacht´ werden kann.

Obwohl die in Sieben-Meilen-Stiefeln angetretene Forschung um die ´Künstliche Intelligenz´ in den letzten Jahren arg ins Straucheln geriet, geht der digitale Ernstfall dank immer erfolgreicherer Simulationen auf Erfolgskurs. Die virtuellen Erlebniswelten führen in die unendlichen Weiten des technischen Universums: in eine ´abenteuerliche Gesellschaft´ (vgl. Flusser 1990, 7). Deren mentale, erst im Keim ablesbare Verfassung auszuloten, ist das digitale Jenseits elektronischer Kommunikation, das derzeit erste Geburtswehen erlebt, im gedanklichen Selbstversuch auf potentielle Realisierung hin abzuklopfen. Vorschnell verbreitete Utopien sind dabei von abwägbaren Wahrscheinlichkeiten zu trennen, und das ´abenteuerliche´ Projekt Digitalrealität ist auf seine Humantauglichkeit hin zu prüfen.

Eine Reihe von Autoren hat sich dieser Herausforderung gewidmet. Wie kaum ein anderer ergründete Vilém Flusser - er verstarb 1991 - die ´auf uns eindringende Zukunft´. Visionär wie provozierend multiplizierte er die in der heutigen Computerkultur angelegten Möglichkeiten mit einer ´wahrscheinlich werdenden Zukunft´ - sein komplexes wie umstrittenes Denken wird auch mit dieser Arbeit nicht ausdiskutiert sein. Die immer realer werdende telematische - durch Telekommunikation automatisierte - Gesellschaft zu ergründen, geht es Flusser, wie er betont, ´nicht darum, ein neues Menschenbild zu entwerfen, sondern einzusehen, in welches Menschenbild wir da gleiten´ (vgl. 1996, 245), wenn das Virtuelle der Datennetze die vertraute Realität überlagert. Phänomenologisch geht er von Beobachtungen aus und verdichtet sie philosophisch, soziologisch, theoretisch und praktisch, ohne sie in die Enge einer Theorie zu treiben. Alles Neue sei zwar stets ´entsetzlich´, da es das Wohlvertraute angreife, alles Neue sei aber auch eine notwendige Herausforderung (vgl. 1990b, 168): "So neu ist der neue Mensch ... den wir da manchmal bereits beobachten können, daß wir uns fast außerstande sehen, an ihm noch das Menschenantlitz wiederzuerkennen" (ebd.).

 So intensiv Flusser einen Spiegel auf die Gegenwart richtet, der eine potentielle Zukunft reflektiert, so intensiv sei im Folgendem sein Denken und das Denken einiger seiner Digitalkollegen beleuchtet und kritisch gespiegelt. Eine Grundfrage dabei lautet: was leistet der Mensch, wenn die Apparate so viel mehr leisten? Computer scheinen den kommunikativen Bedürfnissen der Nutzer mit spielerischer Leichtigkeit nicht nur zu entsprechen, sondern bei weitem zu übertreffen. Dabei aber werden Maschinenbedienung und multimediale Interaktion als Kommunikation und als dem menschlichen Sprachaustausch vergleichbare Interaktion vorausgesetzt. Die Kommunikation mit und über Computer gleicht einer Direktkoppelung zwischen den Köpfen der Nutzer und den apparatischen Verschaltungen. Die These einer informationstechnologisch möglichen Aufklärung (Informierung) aber ist noch sowenig gesichert wie die der kommunikativen Anschlußfähigkeit von Mensch und Apparat. Absehbar ist vielmehr, daß ´nicht nur die Kommunikationsverhältnisse umstrukturiert werden, sondern zugleich auch die Vorstellungen und das Bewußtsein davon, was Kommunikation ist´ (vgl. Fiehler 1994, 524). Welche Herausforderungen also werden an die Rezipienten der Neuen Medien gestellt, wenn das Kommunikationsmedium zum Leitmedium wird?

Optimistische Medientheoretiker sind überzeugt, der Mensch werde durch Information und Kommunikation erst ´zu sich kommen´. Allemal aber ist die ´Telematie´ auch eine Gratwanderung, deren Gedeih oder Verderb von jenen abhängt, die sie vorantreiben - von den besagten ´Wilden´ und den Verhältnissen, die sie prägen. Obgleich der Mensch schon immer technologiegeprägt war, und - vom Faustkeil über den Buchdruck bis zur Fabrik - Mensch und Werkzeug sich stets wechselseitig bedingten, eröffnen die Informationstechnologien nun eine neue Runde in der ´Entwicklung des Humanen´. Das Humane wird neben allen ´allzu menschlichen´ Eigenschaften neu durchzudeklinieren sein. Im Abhängigkeitsverhältnis des Menschen zum Apparat ´wird der Computer zwar ohne den Menschen nichts sein, ohne den Computer aber wird auch der Mensch nichts mehr sein´ (vgl. Flusser 1996, 143).

Wie auch immer die Neuen Medien den Alltag beeinflussen, das Altvertraute steht vor einer harten Probe. So hält Flusser das ´historische Denken´ für reichlich überholt, er hält es telematisch für unangemessen und durch eine Haltung ersetzt, die er Nachgeschichte nennt. In ihr gelten weder mehr Schriftlichkeit, noch vertraute räumliche oder zeitliche Dimensionen, noch eine auf Linearität und Dialektik fußende Logik. Vielmehr herrscht die raum- und zeitlose Strukturvielfalt einer digitalen Informationswelt, deren Codes die Wirklichkeit filtern und festlegen. Aus dieser Logik heraus nur ist eine Standortbeschreibung der digitalen Realität möglich. Auf welche Pfade die digitale ´Revolution´ auch führen mag, wie auch immer die Kommunikationsmittel zwischen Stromzufuhr, Kabelsalat und Bildauflösung die Kommunikation fördern oder gefährden, die Debatte, ob und wie das gute alte Fernsehen die menschliche Wahrnehmung beeinflußt, war im Vergleich zur nun anstehenden Debatte eine harmlose Übung. Eine Art "technologischer Urteilskraft", so Frieder Nake (1994, 544), ist vonnöten, die Debatte führen zu können. Begebe man sich, sie zu erlangen, aufs digitale Glatteis.

 

Eine Annäherung an die mutmaßliche Mentalitätsverschiebung der vernetzten Menschheit zu finden, sei zunächst die Vielschichtigkeit der technologischen Innovationen skizziert. Grundlegende Tendenzen des computerisierten Wandels werden mit den Zielen einiger Multimediaspezialisten konfrontiert und bezüglich ihres Wahrscheinlich Werdens destilliert (Kapitel I).

Die digitalen Strategien fördern neue Wahrnehmungs- und Kommunikationsbedingungen, die das Medium der Schrift provozieren und weiterentwickeln. Doch welchen Einfluß hat eine ´computergestützte Phantasie´ auf die Imagination des Rezipienten? Durch den Computer definieren sich Kultur und Kommunikation technologisch, und angesichts der Karriere der Information geraten Wissen und Sinn in digitale ´Schutzhaft´: Die Umlaufgeschwindigkeit der Informationen und die Strukturalität der Datenvermittlung bestimmen die Aussagekraft der Informationen und führen zu neuen Zwängen der Rezeption und der Wissensproduktion (Kap.II).

Das Neue ist auch informationstechnologisch der Antriebsmotor des kulturellen Wandels. Zwischen Mangelware und Überschuß wird der Information der Status der Weltveränderung zugeschrieben. Sie gibt Denk- und Handlungsanweisungen, doch stellt, von ´Künstlichen Intelligenzen´ gestützt, das historische Selbstverständnis des Sinns auf die Probe: Die technologischen Bedingungen der Informationsproduktion offenbaren ein Mißverhältnis zwischen komplexem Denken und apparatischer Sinnvermittlung (Kap.III).

Wissen, Politik, Kunst, Alltag und Konsum, das Gesamt des gesellschaftlichen Lebens wird dem Sog des Digitalen überantwortet. Die Datenverarbeitung verwischt dabei die Grenzen zwischen Jenseits und Diesseits von Handeln und Wissen - sie zieht noch den Körper in ihren Bann und stellt die Herrschaftsfrage neu (Kap.IV).

 Wandelt sich das gesellschaftliche und mediale Selbstverständnis durch die Neuen Medien so subversiv wie rasant, so hat vor allem die Wahrnehmung einen qualitativen Ruck zu wagen: Die digitale Zivilisationsoffensive fordert eine Steigerung der Wahrnehmungskompetenz (Kap.V). 

 

 

 

Weiter mit I. Die Erweiterung des Körpers