IV. DIE MACHT DER PROGRAMME

 

Zu behaupten, ´alle derzeitigen Computer der Erde seien so komplex wie ein menschliches Gehirn´ (vgl. Leckebusch 1990, 41) ist reichlich übertrieben, denn das Wissen, das sie speichern, kommunizierbar und komputierbar machen, führt noch keineswegs zum ´Denken´. Man mag alle Computer miteinander verbinden und auch noch das menschliche Nervensystem an Computer anschließen, die ´elektromagnetisierten Nervensysteme´ aber werden das Niveau der Niedrigkomplexität der Inputs kaum wettmachen.

Nichtsdestotrotz können alle ans Netz geschlossenen Terminals der Nutzer als ein ´Gehirn´ bezeichnet werden, als "eine aus Black Boxes zusammengesetzte Super-Black-Box" (Flusser 1992b, 65). Dieses ´Gehirn´ denkt zwar nicht, seine Qualität liegt aber darin, daß es die ihm zur Verfügung stehenden Informationen nach Befehlsmustern prozessiert: "Die Gesellschaft besitzt ein eigenes Gedächtnis, das weit dauerhafter und weit vielseitiger ist als das Gedächtnis irgendeines Einzelwesens, das ihr angehört" (N. Wiener in: Nagula 1991, 198).[1] Vorbei die Zeit, in der sich das tradierte Wissen über Bücher, Körperkommunikation und Rituale zeigte, Kultur ist nun auch das, was digital gespeichert ist und sich - kommunizierbar - augenblicklich im digitalen Netz vollzieht. 

Sowenig das Digital selbst denkt, so vermittelt es doch gesellschaftlich stattfindende Denkprozesse. Der Vermittlung selbst ist das Vermittelte nicht Denken, sondern Datenaustausch. Das ´gesellschaftliche Gehirn´ stellt nicht den Anspruch nach Selbstreflektion. Stattdessen bilden die über die Big Black Box dialogisierenden Nutzer eine "Gesellschaftsstruktur, die wohl am besten ein ´kosmisches Hirn´ zu nennen sein müßte" (Flusser 1990, 59). Die Nutzer laben sich an den Denkprozessen, die sie mit anderen eingespeist haben. Wie im menschlichen Gehirn sind die Informationen weitgehend ortlos verteilt und doch weitgehend überall gleichzeitig anwesend. Mit jeder Bitzufuhr wird das ´Gehirn´ und rückwirkend das Nutzerkollektiv ´klüger´.

Der Sog für die Gedanken und Ideen der Menschheit bietet Raum für eine Utopie, die darauf setzt, das dialogisierende Gehirn werde selbst Geistesblitze entzünden können: Im ´kosmischen Hirn´, so Timothy Leary, schließen sich "individuelle Intellekte zu einem globalen Gruppenintellekt" zusammen (1991, 276). Der Personal Computer sei dabei, zum ´Interpersonal Computer´ zu werden (ebd.), und der "Bildschirm ist der Ort, wo das interpersonale, interaktive Bewußtsein des Weltintellekts zum Vorschein kommt" (279). Im globalen Computernetz, das die Gehirne der Nutzer anzapft, soll mein Gehirn, das über die Finger Output an die Terminals gibt, in Echtzeit ein kleiner Teil des seinen sein. Lévy zufolge ist ´die Echtzeit der kollektiven Intelligenz eine Emergenz, die Denk-, Lern- und Arbeitsintensitäten synchronisiert´ (vgl. 1997, 89).

Solange die Apparate daraufhin programmiert sind, Wissen zu erweitern, solange Informationen eingegeben werden und solange an den Netzknoten-Terminals irgend jemand sitzt, der Fragen hat, die irgendjemand irgendwo im Netz beantworten kann, steigt mit steigendem Wissensvolumen auch die Wissenskompetenz der Netze und seiner Nutzer. Das Digital ist ´dankbar´ um jedes neue Bit, das seinen Netzerregungszusstand erweitert, da es, die Nutzer bereichernd - als Wissenserweiterungsprogramm installiert ist. Jede Bitmutation ist im Nanobereich des Daten´denkens´ eine neue Welt - obwohl das Wissen auf der Programmebene selbst nichts ausrichten kann. Auf Niedrigkomplexitätsniveau aber ist die Informationszufuhr in den interaktiven Datenforen mit Lernen im menschlichen Sinne vergleichbar: Der Oberschenkelknochen eines simulierten menschlichen Doubles wird noch viele Fragen haben, ehe er ´gehen´ kann. Das Digital bietet optimale Voraussetzungen, dem Double auf die Beine zu helfen, da alle Netznutzer mithelfen. Was immer und wie immer das kollektive Gehirn auch ´denken´ wird, es ist am ´Brüten´.

 



[1]Das Digital vergilbt nicht so schnell wie Bücher und es entwickelt Bücher fort zum Hypertext. Konnten bislang Bücher den Leser in Erregung versetzen, nun erregen die Nutzer die Netze, um sich rückwirkend erregen zu lassen, also den (menschlichen) Erregungszustand zu erhöhen, der dann qua Rückkomputation wiederum die ´innerhirnliche´ Digitalerregung erhöht.

 

 

 

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