II. VOM WISSEN DER INFORMATION

 

Wenn sich die Realität denn also heute zur software verdoppelt, so endete sie bislang im Buch. Seit Jahrhunderten werden das Weltgeschehen und das Wissen vorwiegend schriftlich codiert. - Und davor? Vor der Erfindung der Schrift wurden Informationen mündlich an den Nächsten und an nachfolgende Generationen weitergegeben - eine einerseits sehr vergängliche Methode der Übermittlung und Bewahrung von Wissen, ein andererseits aber sehr kommunikativer Akt. Vorschriftlich war Wissen in der lebendigen Gemeinschaft verankert und "wenn ein alter Mensch starb, brannte eine ganze Bibliothek ab" (Lévy 1996, 8). Erst nachdem die Sprache in Schriftzeichen gesetzt wurde, war man vor dem Vergessen gefeit. Die Tontafeln der Sumerer eröffneten das Informationszeitalter und die Schrift wurde zum Heimvorteil gegenüber Artgenossen und anderen Kulturen. Schriftzeichen garantierten Worte, die bleiben, und das mündliche, unmittelbare Miteinander-Reden, die "Vulgärsprache" (Kittler 1993, 153) konnte erstmals in den Hintergrund treten.

Verglichen mit der ursprünglichsten Form der Informationsweitergabe durch genetische Vererbung liegt der Vorteil der Schrift darin, selbsterschaffene und kulturelle Informationen speichern und weiterzugeben zu können. Nicht der menschliche Generationssprung ist in der Buchstabenhelix der Moment der Weitergabe, Gedankengut läßt sich vielmehr jederzeit ´einschreiben´. Schriftlich Fixiertes führte aus der ´Unmündigkeit des genetischen Codes´ heraus. Es konnte das Denken unsterblich machen.

Die Schrift erlaubte, Wissen in Büchern zu sammeln und in Bibliotheken aufzubewahren. Wesentliche kulturelle Fakten und Stationen der Entwicklung des Menschen sind überliefert. Gäbe es keine Bibliotheken, wäre die Menschheit quasi ohne Gedächtnis. Sie hätte nur ihre lebensweltliche Erinnerung und könnte über ihre Herkunft nur mystisch spekulieren: "Die Bibliothek" - Flusser nennt sie ´das übermenschliche Gedächtnis´, "ist ein himmlischer Ort ... in welchem ewige, unveränderliche Informationen ... nach den Regeln der Logik aufbewahrt werden. Dieser himmlische Speicher ist unsere ... Heimat" (vgl. Flusser 1989, 47) - ´Papier ist unsere Heimat, ohne Papier wären wir nicht mehr richtig da´ (ders. 1992, 86). In den Speicher ´greifend´, vermag sich der Mensch seines geistigen Erbes zu versichern, sich am Tradierten zu definieren und sich durch Neukombinationen von Fakten in neuem Licht zu sehen. 

Durch die vor etwa dreitausendfünfhundert Jahren entwickelten schriftlichen Codes erfuhr der Mensch eine radikale Veränderung des Denkens und Handelns. Nach und nach verließ er zugunsten schriftlicher Rationalität und Faktizität den Kosmos der Mythen, wodurch geschichtliches Zeitbewußtsein erst entstehen konnte: "Erst mit dem Aufschreiben ist das historische Bewußtsein auf Touren gekommen" (Flusser 1992, 22), wohingegen sich davor ´alles nur ereignet´ hat  (vgl. ebd. 12).[1] Schreiben prägte fortan das Denken des Abendlandes, und entgegen postmoderner Verlautbarungen bezüglich eines ´Posthistoire´ haben wir auch heute "das geschichtliche Bewußtsein nicht etwa hinter uns, sondern es ist unser Bewußtsein" (ders. 1990b, 167f). Bibliotheken und Archive, jene ad acta gelegten Tat- und Wissensbestände, sind eine "über den Menschen schwebende ... Transzendenz" (ders. 1989, 46).

Diese Transzendenz wird gegenwärtig kräftig geschüttelt. Sie wird umcodiert. Die Buchstaben werden nicht mehr in Druckerschwärze getaucht, sondern in Zahlen. Man ´liefert die Geschichte heute an die Apparate aus und überliefert ihnen´ - wie vordem den Bibliotheken - ´allen Sinn´ (vgl. Flusser 1992, 123). Die digitalisierten ´Bücher´ werden in Dateien verwaltet, sie lassen sich auf neue Weise verbreiten und präsentieren das Sagbare in neuer und anderer Qualität. ´Immer gieriger´ scheinen die digitalen Gedächtnisse ´die Geschichte in sich aufzusaugen´ (vgl. ebd.). "Nie zuvor", so Flusser, "ist der Fortschritt der Geschichte so atemlos gewesen wie seit der Erfindung der ... Apparate ... Immer deutlicher geschieht alles Geschehen mit dem Ziel, ´aufgenommen´ zu werden." (ebd.). Flussers Fazit: "Der Apparat ist das Ziel der Geschichte" (1990b, 118). Das boomende Wissen und die irdisch sich überschlagenden Ereignisse drängen durch das mediale Nadelör, um gespeichert zu werden. Als gäbe es nicht genug des Vermittelbaren, erzeugen die Medien sendefähige Fakten sogar selbst. - Das virtuelle Terrain will schließlich bevölkert sein: mit dem gedoubeltem Homo Copy, seinem Wissen und der bekannten, simulierten und phantastisch erweiterten Welt. 

Angesichts der neuen Speicher- und Vermittlungsverhältnisse scheint die Schrift weder mehr der Komplexität des ´Sagbaren´ noch der Mobilität des Wissens gerecht zu werden. Die immensen Mengen der zur Verfügung stehenden Daten sprengen die Buchstabenlogik: Die Lichtgeschwindigkeit markiert nun den medialen Einsatzort der Wissensvermittlung. Sie verwandelt Texte - anklickbar, änderbar und von Icons umgeben - binärcodiert zum Bild. Nicht mehr derjenige ist auf der Höhe der Zeit, der in aller Ruhe zum Buch greift und Worte imaginiert, sondern der, der es versteht, diese Bilder zu ´lesen´ und handzuhaben.

Nicht in Denk-Formen erfolgt die Informierung, sondern in Wahrnehmungs-Formen. Informationen in Bildern und Hypertexten zu orten, raubt selbst der Sprache die Kraft der Worte. Das Geschick, mit Verzeichnissen und links umzugehen und zur rechten Zeit Daten zu aktivieren, steht noch vor den Inhalten, die gesucht und bearbeitet werden. Die Strukturen der Sinnlagerungen dominieren den Sinn und das Verstehen der Strukturen emanzipiert sich von den Inhalten, die sie strukturieren. War das Buch das erste Interface, das von der Umwelt ablenkte, so ist ein Datensurf die Emanzipation von den Buchstaben, vom buchstabierbarem Sinn und vom Anspruch der Aufklärung. Sinn ist der Informationszirkulation des menschlichen ´Reservegedächtnisses´ nurmehr ein Hintergundrauschen. Nicht Wissen ist gefragt, um ´Tiefgang zu erhalten´, vielmehr ist die Frage wesentlich, wieviel Gigabyte Aufklärung dazu nötig sind.



[1] "Im 8. oder 7. Jahrhundert vor Christus", war "die Zeit ...  in der überall die Menschen aus dem magischen in ein anderes Denken ausgebrochen sind" (Flusser 1988, 122): "Mit der Erfindung der Schrift entsteht eine neue Bewußtseinsebene, die einen Schritt weiter zurücklegt als die Imagination, eine die Imagination kritisierende, disziplinierende, lineare, aufklärerische Ebene. Darin ist der Keim der ganzen westlichen Kultur enthalten, darin ist der Keim für Wissenschaft und Technik enthalten" (ebd. 125).

 

 

 

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