5. Die Entropiefalle

 

Sosehr die Medienvermittlung das Vermittelte dominiert, die Klage, die Fernseh-´Bewußtseinsindustrie´ sei monströs, weil es ´ihr nie aufs Produktive ankomme, sondern immer nur auf dessen Vermittlung´ (vgl. Enzensberger 1964, 8f) mag dennoch irritieren. Schließlich wird allzu fleißig produziert. Die Kreativität in Film- und Fernsehproduktionen boomt, die Medienästhetik nimmt die digitale Herausforderung an, Computerkunst erobert die Museen und via Internet kann heute jede Idee die Welt erobern. Der Kreativitätsschub scheint mit den technologischen Möglichkeiten zu wachsen.

Die Frage aber ist, ob sich das kreativ Produzierte tatsächlich an das Bewußtsein der Zuschauer beziehungsweise der Nutzer richtet. Wird etwas produziert, gesagt und gezeigt, um die Sinnkomplexität des Aktuellen und die des Rezipienten zu steigern oder will es als eine nur neue Variante des schon Bekannten nur gesendet werden? Die Gretchenfrage schwankt zwischen Sinn und Vermittlung, zwischen Komplexität und Struktur. Ist das Produzierte tatsächlich kreativ, oder ist die Botschaft die Vermittlung selbst, in der sich der Sinn als Einschaltquotenbeschleuniger genügt? Letzteres ließe - sogar ans Bewußtsein adressiert - fraktal ´alles´ sagen, ohne etwas zu sagen.

Philosophie, Musik, Kunst und Literatur - die kreativen Potentiale - wurden laut Enzensberger unter Schutzhaft gestellt und in Reservate gesperrt, in denen sie fern des massenmedialen Weltdorfs ein abseitiges Dasein fristen (vgl. ebd.). Kunst wurde "aus dem täglichen Leben in Museen verbannt" (Flusser 1988, 131). Dort, im Jenseits des medialen Konsens kann sie die Lebenswelt der Rezipienten weder erreichen noch bereichern. Über Philosophie, Musik, Kunst und Literatur wird medial berichtet wie über exotisches Gemüse, das umständlicher Zubereitung bedarf. Da die Zubereitung nicht allzu ausgefallen sein sollte, werden dem Rezipienten einfache Wahrnehmungsrezepte vorgeschlagen. Das Besondere soll, gebrochen über das Allgemeine, als Verlängerung des Bekannten keine Verdauungsprobleme bereiten.

Selbst aber wenn beispielsweise Kunstwerke online gehen und rasch, unmittelbar und hochaufgelöst zur Verfügung stehen, ist nicht garantiert, daß sie der (zeitaufwendig) komplexen Anschauung dienen und einen Museumsbesuch ersetzen können. Die ´Schutzhaft´ kann durchaus auch in der Speicherung und der Digitalvermittlung liegen, denn die Form der kommunizierten Kunst bestimmt die Kunstrezeption - jede Nachricht erhält (die Nachricht einfärbend) als Konnotation, wie und über welchen Kanal sie kommt. Zwar erlaubt die interaktive Vernetzung, daß die Rezipienten nun freie Wahl haben und selbst entscheiden können, womit sie konfrontiert werden wollen, dieser seinerseits nun produktive Prozess der Komplexitätskonstruktion aber ist abhängig sowohl von den Strukturbedingungen der Netze als auch vom Komplexitätsniveau, das die Rezipienten antreibt. Die in den ´Packungsbeilagen´ der Neuen Medien verheißene Gesundung vor dem angeblich ´mageren Niveau´ der analogen Medienvermittlung erfolgt keineswegs automatisch. Wo aber, wenn überhaupt, ´weht´ das Rezeptionsbewußtsein im Allgemeinen, will es sich im Besonderen entfalten - und wo und wie kann das Besondere das Allgemeine beeinflussen? Was überhaupt erwartet der Rezipient von den Medien? Und was hat er von den interaktiven Medien zu erwarten?

Was der Rezipient im Besonderen will, ist angesichts der Norm des Allgemeinen nicht leicht auszumachen. In den Untersuchungen über das Medienverhalten wird den Befindlichkeiten der Individuen nicht individuell nachgegangen, vielmehr werden deren ´Fingerbewegungen´ auf Fernbedienung und ´Maus´ verallgemeinernd gemessen: Die Einschaltquote bricht den Einzelnen als Publikum über den gemeinsamen Nenner seiner ´Blickeinheiten´. Die Einschaltquote - und auch die Umfrage - mißt nach dem Börsenprinzip der Statistik, das nur Reiz-Reaktionswerte erfaßt. Quoten simulieren die Sinnkomplexität und ersetzen Befindlichkeiten durch Graphiken. So wenig auch das durch Geld in Gang gehaltene Wirtschaftssystem selbst ´erfährt, was Bedürfnisse wirklich sind, obwohl es Bedürfnisse befriedigt´ (vgl. Luhmann 1992, 39), so wenig ´erfahren´ die durch Informationen in Gang gehaltenen Informationsmedien von den Bedürfnisse der Rezipienten, obwohl sie ebenfalls Bedürfnisse befriedigen. Beide Systeme folgen dem Prinzip der Selbstreferenz. Die Bedürfnisse liegen - in Schutzhaft - außerhalb der Systeme. Was Zuschauer also jenseits des abrufbaren Angebots wollen, entzieht sich der verallgemeinernden Ermittlung.

Neben der Ermittlung des Besonderen ist auch das Allgemeine ein blinder Fleck der Medienwahrnehmung. Information ist den Medien strukturell sammelbares Wissen im Kontext ihrer Eigenerweiterung. Sammlung und Vermittlung von Wissen aber sind keineswegs schon Kultur, Wissen ist nicht Sinn und die Fernbedienung garantiert noch keine Bewußtseinsbereicherung. Die Medien verteilen Informationen, Wissen und Sinn als fraktal handzuhabende Pakete, die erst komplex ´auszupacken´ und an Bedürfnis, Erfahrung und Erinnerung zu binden sind. Die Rezipienten scheinen Bäume erkennen zu müssen, die man in Streichhölzer zerlegt hat, beziehungsweise Streichhölzer, die als Baum daherkommen: Das fraktal Vermittelte - beispielsweise Allgemeinwissen - ist über die Strukturen, denen die Inhalte nur als Anhang folgen, ins Komplexe zu übersetzen. Da zunächst aber die Vermittlungslogik dominiert, sieht der Rezipient zunächst den Wald vor lauter Bäumen nicht. Enthebt er aber den Sinn nicht über die Struktur, so surft er niedrigkomplex nur über Programmoptionen. Er nimmt dann gewissermaßen die Schemata von Programmzeitschriften wahr, nicht aber die Programminhalte. Eine derart fraktalisierte Wahrnehmung schließt das Besondere mit dem Allgemeinen kurz und entledigt sich des Sinns. Das Niveau der Wahrnehmung wird dann mit der Einschaltquote selbst identisch.

Wer keinen gefestigten Sinnhintergrund bei der Informationsrezeption bereithält, wird in den Fluten der Informationen hoffnungslos stranden.[1] Potentiell kann freilich jeder den Rosenkranz der aktuellen Informierung herunterbeten, jeder erfährt mehr oder weniger dasselbe, denn die Medien verbreiten mehr oder weniger dasselbe Wissen. Informationen werden möglichst gleichverteilt, sie werden als Nachricht so lange wiederholt, bis sie auch im ´letzten Haushalt´ ankamen und - eventuell komplex - verstanden wurden. Die Informationen verteilen sich relativ gleichmäßig im gesellschaftlichen Raum. Ohne ´Gehirnschaden´ unter den Rezipienten nach sich ziehen, zirkulieren sie geisterhaft durch die Gesellschaft und verflüchtigen sich nach dem Aktualitätsschub ins ´Off´ des Gespeichertseins. Nach ihrem Bekanntwerden können sie dem Verfall preisgeben werden.   

Die herkömmlichen Medien muntern nicht dazu auf, auf die Informationen zu reagieren, über sie nachzudenken, auf sie zu antworten und aus den Neuigkeiten selbst Informatives schlußzufolgern. Es genügt zu sagen ´so ist es und also weiß ich bescheid´. Weiterführende Reaktionen sind nicht beabsichtigt, denn man soll informiert sein: Die Medien wollen die Informationen an die Rezipienten loswerden. Der Rezipient ist eine Art Müllsack des Weltgeschehens, der am Ende der informatorischen Nahrungskette steht. Nach ihm stürzt die info ins Nichts der Geschichte. Sie kann gespeichert beziehungsweise vergessen werden.

Doch nichts wird vergessen, alles wird gespeichert und kann durch die Informationszirkulation künstlich ´am Leben´ erhalten werden. Aus den Speichern heraus kann und soll man immer aufs Neue informiert werden können. Nach veralteter Aktualität können Informationen als Geschichte an neue Aktualitäten geknüpft werden, und das Aktuelle kann an der Geschichte geprüft werden. Doch wiederum - dem klassischen Informierungsmodell folgend -, bleibt der Rezipient nur Rezipient. Er ist, gleichwohl er beispielsweise Leserbriefe schreiben darf, dazu verdammt, zu hören und zu sehen, wie die Aktualität im Spiegel der Geschichte sich spiegelt - und umgekehrt. Er ist zur Wahrnehmung verdammt und von Reaktionen, die unmittelbar den Informationsstand verändern, ausgeschlossen. Die Aktualität einschließlich der aktuell gewordenen, gespiegelten Geschichte gerät, sobald informiert wurde, erneut ins ´Off´ des Desinteresses. Das ´Märchen von der Wahrheit´ als Neuauflage des ´Märchens von der gestrigen Wahrheit´ wird immer neu erzählt, ohne Anteilnahme herauszufordern.

Die Informationsindustrie nährt sich von den Massen gespeicherter Informationen: Geschichte, Zeitdokumente, Spielfilme, Serien und sogar Nachrichten (die Jahrzehnte alte ´Tagesschau´) werden immer aufs neue wiederholt. Das kulturelle Gedächtnis pflegt Tradition, indem es sich selbst reproduziert und immer aufs neue gleichmäßig verteilt wird. Die sogenannte Öffentlichkeit wird mit ´längst bekannten´ Informationen fraktal ´geflutet´. - Anlaß dazu geben Gedenktage, Geburtstage, Katastrophen, der Verweis auf ´Altbewährtes´ etc.: Das mediale ´Gedächtnis´, so höhnt Stelarc, ´führt zur Nachäffung´ (vgl. 1995, 74). Die Wahrnehmung droht nach und nach eingeschläfert zu werden, wenn das Alte endlos wiederkehrt und beispielsweise einst revolutionäre Musik auf das Dudelfunkniveau hinaufgeschrumpft wird. Das Gespeicherte liegt dann weit hinter dem aktuellen Komplexitätsstand der Rezipienten zurück.

Obwohl Geschichtsaufbearbeitung zu neuen Erkenntnissen führt, kreisen die Endloswiederholungen in einer Art künstlichen ´Aktualitätsschleife´, in der der Sinn nurmehr die Fußnote seiner Zirkulation ist. Flusser klassifiziert diese Zirkulation schon bekannten Wissens als Kitsch: Kitsch ist "als ein recycling des Abfalls zurück in die Kultur anzusehen" (1985, 53). Dieser Prozeß folgt dem Bedürfnis, nichts vergessen zu wollen. ´Im Abfall sollen wir glücklich werden´ (vgl. ebd. 60). Der Kitsch sei uns im ´Universum der Gemütlichkeit´ (vgl. Anders 1985, 125) "eine Methode ... gemütlich zu sterben" (Flusser ebd. 61). Die Aufnahme alter, längst bekannter Informationen nennt Flusser ein "Vergnügen am Kotsaugen" (1990b, 130).

Das der Informationsvermittlung folgende Versiegen der Informationen in ´Gleichverteilung´ aber scheint kein hausgemachtes Problem der Informierungsstrategien zu sein, sondern einer universellen Gesetzmäßigkeit zu folgen: dem sogenannten ´Satz der Entropie´. Der ´Zweite Hauptsatz der Thermodynamik´ umreißt den Zustand der Ausdifferenziertheit der Materie bei gleichbleibendem Energieniveau. Er verdeutlicht das Gefälle von Information zu ´Entinformatisierung´ und macht das Mißverhältnis von Komplexität zu Struktur transparent. Der Entropiesatz illustriert die Diskrepanz von Wissen zu Bewußtsein und erklärt die ontologische Kluft zwischen Informationszufuhr und Kommunikationsgeschick.

Die Entropie ist ein Maß für die Unordnung und für die Gleichverteilung von Partikeln in einem geschlossenen System. In der unbelebten Welt herrscht bezüglich der Materie die natürliche Tendenz, daß sie sich auf einen Zustand immer größerer Unordnung hinbewegt. Der Entropiesatz besagt, daß die Gesamtenergie beispielsweise bei gleichmäßiger Durchmischung zweier Gase nie abnehmen kann, die Unordnung der im Raum gleichmäßig verteilten Gase aber zunimmt. Dieser ohne weitere Energiezufuhr irreversible Prozeß bedeutet steigende Entropie. Anders gesagt: Obgleich die Menge der Energie in einem geschlossenen System grundsätzlich erhalten bleibt, sagt das noch nichts über ihre Verfügbarkeit. Wärme fließt immer nur in eine Richtung - vom wärmeren zum kälteren Körper, nie umgekehrt, so daß im geschlossenen System Weltall irgendwann alle Vorgänge im sogenannten ´Wärmetod´ auf Niedrigtemperaturniveau zum Stillstand kommen müssen. ´Das Naturgeschehen hat eine unumkehrbare Richtung. Es führt aus Zuständen und Strukturen einer aus Ungleichverteilung resultierenden Ordnung in eine Unordnung der Gleichverteilung. In der unauflöslichen Vermischung von allem mit allem lösen sich alle Unterschiede auf´ (vgl. Guggenberger 1991). 

Bezüglich des Informierungskosmos vermag die Entropie die Tendenz zu kommentieren, daß alle noch so hochgradig aktuellen Informationen an Aktualität verlieren, daß der Zustand einer aus Ungleichverteilung resultierenden Ordnung (der Prozeß der Informierung) in eine Unordnung der Gleichverteilung (das Informiertsein) mündet, woraufhin die Informationen ein Dasein der Nichtbeachtung fristen. Entropie besagt, daß Kommunikation ´sprachlos´ wird, sofern das Besprochene keine weitere informatorische ´Energiezufuhr´ erhält. Entropie besagt, daß die Komplexität der Tendenz unterliegt, sich in Vereinfachung zu verflüchtigen. Das Allgemeine ist demzufolge entropischer als das Besondere, der Standard ist entropischer als die Innovation, Statistik ist entropischer als Feldforschung, Recycling ist entropischer als Kreativität, Wissen ist entropischer als Bildung, Tradition ist entropischer als Revolution, und Kulturenzyklopädien sind entropischer als Kultur: Die ´Unordnung der Gleichverteilung´ umschreibt die natürliche Tendenz der Vergänglichkeit.

"Die meisten ... Informationen sind in Vergessenheit geraten. Nicht nur Dokumente zerfallen in Asche und Gebäude in Ruinen, sondern die meisten der uns vorangegangenen Kulturen haben kaum Spuren hinterlassen" (Flusser 1989, 43). Informationstheoretisch meint Entropie: "das Universum, als geschlossenes System betrachtet, neigt dazu, Informationen zu verlieren" (ders. 1988, 123). Auch in der Natur sind Informationen, die genetisch weitergegeben werden, der Entropie preisgegeben, da die Evolution keine Garantie geben kann, daß Zellen nicht absterben und Tierarten nicht aussterben. Entropie ist überall zu finden: Aktualität thematisierende Filme werden zu ´Klassikern´, Künstler produzieren nach kurzen Erfolgsschüben oftmals nur noch ´Mist´, Hits werden zu ´Oldies´, Moden ´out´, Aktuelles langweilt nach Bekanntwerden und selbst das Fernsehen ist ja angeblich nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit.

Wider die Tendenz der Entropie freilich wirkt die Evolution selbst: Die Natur überwindet die Entropie, indem sie neue Informationen als (zufällige) Mutationen zuläßt. Die Biomasse ´spielt´ durch fehlerhaftes Kopieren mit den in ihr gelagerten Informationen, wodurch eine neue Informationslage entsteht. Sie steigert den Komplexitätsgrad der Biomasse und bringt den Informationshaushalt auf eine emergentere Ebene. Die Gegentendenz der Entropie also ist die Information, die "Antwort auf den ´Wärmetod´ ... ist: ´informieren´" (Flusser 1990, 19). Die Information ist das Neue, das noch nicht Dagewesene, das bis dato Unwahrscheinliche. Eine Information definiert sich als ein "Unterschied, der einen Unterschied macht" (Bateson 1985, 408), indem Unwahrscheinliches wahrscheinlich wird und den Wissens- und Aktualitätsstandard ändert. - Je unwahrscheinlicher eine Information ist, desto informativer, desto negativ entropischer, negentropischer ist sie.

Der Mensch nun hat im Gegensatz zur Natur die Gabe, jenseits der genetischen Speicher nicht nur kulturelle Informationen zu speichern und zu ändern, sondern jederzeit Neues zu kreieren. Er "unterscheidet sich von den übrigen Lebewesen durch die Tatsache, daß er erworbene Informationen speichert und weitergibt. Das widerspricht der Biologie, die sagt, daß nur genetische Informationen weitergegeben werden" (Flusser 1988, 123). Der Mensch ist damit ein "Wesen, das gegen die sture Tendenz des Universums zur Desinformation engagiert ist" (ders. 1990, 19). Er ist das einzig existierende Wesen, das absichtlich Informationen herstellen kann, das lernen und dadurch neues Wissen transformieren kann - Lernzuwachs steht in negentropischer Analogie zur natürlichen Weiterentwicklung durch Mutation. Auch die Neukombination von Altbekanntem kann zu neuen Informationen führen. "Wir ... helfen uns mit der hochselektiven Aufwertung bestimmter Arten von Altsein zu Oldtimern, Klassikern, Antiquitäten, zu denen wir dann wieder neue Informationen, Preise, Interpretationen erzeugen können" (Luhmann 1996, 46). Aus Alt mach Neu ist eine Devise der Negentropie.

Der Errungenschaft der Informationsproduktion kommt zugute, daß die erworbenen und neuerschaffenen Informationen in einem kulturellen Gedächtnis, in Bibliotheken und Datenspeichern aufbewahrt werden können. Die Speicher gewähren ´kommunikativere Formen der Kommunikation´, sie treten an gegen die natürliche Tendenz des Vergessens, denn Informationen können immer aufs neue in die Aktualitätsszenarien eingehen. Den Speichern steht - den genetischen Grundlagen vergleichbar - geradezu autonomer Charakter zu: "Nicht sie [die Bibliothek] diente dem Menschen in seinem Engagement, erworbene Informationen vor der Entropie zu bewahren, sondern im Gegenteil diente der Mensch ihr, um in ihr vor der Entropie (vor dem Tod) bewahrt zu werden" (Flusser 1989, 46). Ohne Speicherung können alte Informationen nicht zu neuen mutieren. Die Speicher also sind subjekthafte Träger der Informationen, sie sind für die Kultur so wesentlich wie die Gene für den Erhalt des Lebens.

Wider die Entropie werden ´immer dauerhaftere Unterlagen für Informationen hergestellt´ (vgl. Flusser 1985, 53). Da immer neue Informationen in die Speicher eingehen und neue wie alte sich ändern, ist das Digital der ideale ´Ort´ der Informationsevolution. Die Speicher sind Spiegel der Existenz des Menschen und seiner Kultur, die Speicherung macht Informationen nahezu unsterblich, doch erst die digitale Speicherung eröffnet der Mutationsfreude noch kaum denkbare Tore. Mit den neuen, digitalen Strategien der Informationsherstellung scheint nicht nur die Entropie überwindbar zu sein, auch die Natur, die zusehends flächendeckend simuliert wird, wird zu einem Teil des Digitals und findet ihr Pendant im Virtuellen. Die biologische ökoware erobert - mutationsbereit - die apparatische software.

Allein die Digitalspeicherung freilich überwindet die entropische Tendenz noch keineswegs automatisch. Ganz im Gegenteil, Speicherung bedeutet auch Vergessen (vgl. Flusser 1992, 131): Solange Daten nur gehäuft, aber nicht genutzt werden, machen sie keinen Unterschied. Ungenutzte Daten gibt es genau besehen gar nicht. Unabgerufenes Wissen ist totes Wissen, ist geistlose Buchstaben- beziehungsweise Bitansammlung. Erst der Griff in die Speicher setzt Informationen frei, erst die Rezeption aktiviert ihren Sinn und eröffnet die Möglichkeit, neue Informationen herzustellen. Während die Natur die informative Weiterentwicklung durch die Fortpflanzung löst und die damit verbundene Möglichkeit von Mutationen dem Zufall überläßt, ist es in der Informationswelt notwendig, Wissen, soll es neue Wirkung tun, kommunikativ am Leben zu erhalten. Der kommunikative Eisprung kann jederzeit erfolgen. Optimale Gelegenheit dazu bieten die interaktiven Wissensreservate der Neuen Medien. Deren Kommunikationsmöglichkeiten sind grenzenlos und ebenso grenzenlos sind die Möglichkeiten neu entstehender Informationen.

Die bislang gängige Praxis der Informierung ist demgegenüber alles andere als kommunikativ: Die herkömmliche mediale Informationsverteilung ist kein Austausch, sondern folgt einer Einbahnstraße, die in einer Sackgasse beim Rezipienten endet. Zeitung, Radio und Fernsehen erlauben keine unmittelbare Gegenrede. Nur über Umwege geht Gegenrede in die Informationen verteilenden Speicher ein: Recherche sammelt, Statistik und Einschaltquote erfaßt Neues aus dem Bereich der Lebenswelt, um es - meßbar gemacht - medial an sie zurückzuspiegeln. Damit reiht sich das Neue ein in die bereits gespeicherte Datensammlung. Erst zeitversetzt, nach ´mediengerechter´, selektierender Aufarbeitung und abhängig von der Einschaltquote wird ´gebündelt´ gesendet: erst nach der Speicherung des Neuen. Weitere Reaktionen auf das Neue benötigen dann einen weiteren Umweg, den der Leserpost oder der Wahl. Sie ´wirken´ aber erst, wenn die entscheidenden Informationen durch die Zirkulation bereits unter Entropie- und Kitschverdacht gerieten. Gegenrede müßte unmittelbar kommunikativ erfolgen, wollte sie negentropisch gegen die Gleichverteilung angehen. Erst die interaktiven Medien garantieren Echtzeitreaktionen.

Die Kritik Flussers an der gegenwärtigen Medienstruktur ist hart wie eindeutig: Der Mensch funktioniere in Funktion der Apparate, er unterliege dem "Apparat-Totalitarismus" der ausstrahlenden Sender, deren ´kosmisches Metaprogramm´ die Massenkultur diktiere (vgl. 1990, 64f). Bereits Günther Anders sprach am Beispiel des Radios hinsichtlich der Informationsvermittlung von einer ´amputierten Beziehung´ dergestalt, "daß dem Hörer zwar die Welt, er ihr dagegen nicht vernehmbar ist" (vgl. 1985, 130). Noch Brecht hatte in seiner ´Radiotheorie´ gehofft, mittels des Radios gesellschaftlichen Austausch zu ermöglichen (vgl. 1967, 129f). [2] Doch auch ihn mußten die medialen Realbedingungen enttäuschen. Seit Brecht gingen Jahrzehnte ins Land, Jahrzehnte der Medienkritik, die von Benjamin über Adorno, Anders und Enzensberger bis hin zu postmodernen Kritikern das ´Totalitäre´ der Medienverschaltung anprangerte. Seitdem läßt sich mit Flusser sagen: "Die Sender beherrschen uns ... weil sie uns bedienen" (1990, 61).

Die technologischen Verschaltungen der Informationskanäle sind einseitig, sie sind einweggerichtet. Radio, Zeitung und Fernsehen, die ´Ausstrahlenden´ hätten Sender und Empfänger zugleich - das sei besorgniserregend, da der Empfänger als passiver Rezipient keine Sender hat: "Das ist ein faschistischer Schaltplan, es geht um Gleichschaltung, Verantwortungslosigkeit, weil ich [als Rezipient] ja nicht antworten kann" (vgl. Flusser 1990c, 213). "Wenn, wie gegenwärtig, die dialogischen Fäden von den Sendern, wie Regierungen oder kommerziellen Instituten, eingeführt werden, müssen sie, trotz ihrer dialogischen Funktion, im Dienste der Sender bleiben" (ders. 1990, 56). Die Sender haben die Macht, den gesellschaftlichen Konsens zu lenken, zu bündeln "wie ein Magnet um sich herum Eisenspäne strukturiert" (ebd. 53).

Obwohl die Zahl der Zeitungsmagazine und Fernehprogramme zunimmt, beherrschen nur wenige Magnaten (Verlage und Agenturen) den Markt. Sie verfügen weitgehend über diesselben Informationen (sie werten sie nur unterschiedlich), da sie mit weitgehend denselben Methoden recherchieren: Die Medien beherrschen uns nicht nur, weil sie uns bedienen, sondern weil sie uns mehr oder weniger - entsprechend der Tendenz zunehmender Fusionen - mit denselben Informationen bedienen. Alle Rezipienten verfügen weitgehend über die gleichen Informationen: "Wir fühlen uns einsam, weil wir alle die gleichen Informationen besitzen, dieses aber nicht mit anderen austauschen können, um daraus neue zu erzeugen" (Flusser 1990b, 90). Nur privater Austausch ist möglich, nicht aber der kommunikative mit den Informationsverteilern.

"Der Verkehr zwischen Bild und Mensch", so die Generaldiagnose Flussers an der informationstechnologisch einseitigen Verschaltung, "weist der Entropie, dem Tod entgegen" (1990, 52), der Tendenz, daß Substanz vergänglich ist, daß Information zwangsläufig dem Vergessen preisgegeben ist. Anstatt kommunikative Plätze (Foren) bereitzustellen, um dort Neues zu schaffen, blockiert das Altbekannte in altbekannten Bahnen die Szene, indem es immer aufs neue ´so tut´, als sei es neu. Selbst das Aktuelle wird immer auf neue aufgekocht. Derartiger Kitsch aber bewirkt nur, "die Wirkung der Entropie zu verzögern. Dadurch verzögert sich der Abfluß aus dem Abfall zurück zur Natur, und der Abfluß beginnt, die Szene zu überfluten (Umweltverschmutzung)" (1985, 53f). - "´Recycling´", so auch Bernd Guggenberger, "ist nichts anderes als der Griff nach der Entropiebremse, der allerdings den ... Zug der Entropievermehrung nie zum Stillstand bringen kann" (1991): Die ´Verzögerung´ potenziert die Entropie sogar, da das Altbekannte das potentiell Neue blockiert.

Flussers Urteil ist hart wie eindeutig: "Die Massenkultur, der überhandnehmende Kitsch, der Verfall der Gesellschaft in Langeweile, in Entropie, sind Folgen der falschen Schaltung. Und dadurch wird die eigentliche Funktion der Gesellschaft (des ´Geistes´) umgestülpt: Statt Unwahrscheinliches, Abenteuerliches herzustellen, ist die gegenwärtige Gesellschaft daran, die in sie hineingefütterten Informationen zu erschöpfen. Es ist eine dumme Gesellschaft" (1990, 78).[3] - Da die einseitige Medienvermittlung die Lebenswelt beherrscht und "ein kosmisches leeres Gerede und Geplapper" erzeugt (ebd. 73), befürchtet Flusser, "bald wird es nichts mehr geben, worüber wir miteinander sprechen könnten" (ebd.). Die Gesellschaft genügt sich darin, rückwärtsgewandt Informationen wiederzukäuen und auch mit ´neuen´ Informationen nur alte Schemata zu bestätigen.

Ganz anderes versprechen die interaktiven Medien. Sie überwinden die herkömmlichen Medien, indem sie in kommunikativer Echtzeit neue Informationen entstehen lassen. Auch das Digital aber, in dem die klugen Nutzer sowohl die Informationsstrukturen auf Trab halten, als auch Sinninnovation pflegen, ist vor Entropie nicht gefeit. Die dialogischen Verschaltungen allein beugen der Verkitschungsgefahr noch keineswegs vor. Das Problem der Entropie verlagert sich nun vielmehr in die Netzkommunikation und verschärft sich insofern radikal, als es nun um die digitalen Bedingungen potentiert wird: Die Informationsprozesse werden immens beschleunigt, die Halbwertzeiten der Information dagegen verkürzt. Zwar ist es nun ein Kinderspiel, negativ entropische Informationen herzustellen, die Entropie aber schlägt umso heftiger zu, je weniger die neuen ´Unterschiede zu weiteren Unterschieden´ führen und das Kommunizierte wachgehalten wird. Waren bislang Kulturen hochgradig entropiegefährdet, die beispielsweise Tradition nicht weiterentwickeln ließen oder sich gegen Reformen stemmten (beispielsweise die DDR), so liegt die heutige Gefahr im kommunikativen Versagen trotz kommunikativer Hyperaktivität potentiell kommunizierbarer Informationen. Nicht der Mangel an Informationen wirkt heute entropisch, sondern die Überproduktion von Informationen, die trotz Turbokommunikation nicht mehr die ´Unterschiede machen´ kann, die sie vorhat zu tun. Die Informierung droht dann elektronische Tabula rasa zu machen und im rasenden Stillstand zu enden.

Die emergente Grundlage der negentropischen Kommunikationsherausforderung sind heute weniger Texte, sondern extrem informationsbeladene Bilder. Informationsbilder liefern den Sinnhintergrund des Austauschs, sie zwingen - im Gegensatz zum Text - den Rezipienten zu einem neuen Umgang mit der ´Realität´ und provozieren Reaktionen im Pixelbereich. Die "Freßlust der technischen Bilder [ist] riesig ... Einmal ins Bild gesetzt, ist alles gegenwärtig ... Damit verwandeln die Bilder die Vergangenheit rückgreifend in gegenwärtige Programme ... während die Vergangenheit zur bloßen Bildfunktion zusammenschrumpft" (Flusser 1990, 50f). Rasant werden sämtliche zur Verfügung stehende Informationen aufgesogen und in die Jetztzeit aktueller Bildlichkeit gesetzt. Wissen und Bilder werden immer schneller recyclet, um als Rohstoff Neues zu schaffen. Die Strategie des Datenrecycling will die ´Informationen als Dünger für neue Ereignisse und Phänomene kompostieren´ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 70). Dabei wird die Vergangenheit nicht als Sinn in der Zeit der Chronologie gehandelt, sondern als Strukturkomponente der in Echtzeit operierenden Nullzeit. Die Informierung läuft turbo und ereignet sich als Kampf gegen die Zeit, in dem die Inhalte des Vermittelten entropisch über Bord zu gehen drohen.[4]

Die Informationstechnologien arbeiten in Lichtgeschwindigkeit, womit - dem Sport vergleichbar - die Reaktionszeit der Rezipienten sogar im Bereich der Nanosekunden Punktsiege zu erzielen hat. Derart beschleunigt aber hat jede Information Mühe, ´zu sich zu kommen´ und ihren Sinn zu entfalten: Geschichte ist einerseits eine nahezu unerschöpfliche Quelle immer weiterer Sinnproduktion, andererseits ist "Geschichte ... daran, zu versiegen, und zwar gerade weil sich die Bilder von ihr nähren, weil sie wie Parasiten auf der Geschichtslinie sitzen" (Flusser 1990, 52). Kamper, dem das 2o. Jahrhundert ein ´Wiederholungsjahrhundert´ ist (vgl. 1993, 82), hält die Medien für eine "Zeit-Maschine ... die Bilder verschluckt, statt sie weiterhin zum Vorschein zu bringen" (1991b, 143). ´Zum Vorschein bringen´ bedeutete, sie kommunikativ auf der Ebene des Sinns zu bearbeiten. Obwohl dies interaktiv möglich ist, werden durch die Option der zeitlichen Unmittelbarkeit die neuen Informationen und Bilder geschluckt, noch ehe sie kommunikativ wirken. Nicht erst die Aktualitätssucht der Rezipienten, sondern schon die Apparate selbst zwingen die optimale Rezeptionszeit gegen Null.

Die Geschichte scheint sich auf der Zeitlinie zu ´rächen´. Sie verstopft auch im Digital die Systeme, bereitet Verdauungsstörungen und hindert die auf Geschichtstreue und Authentizität genormte Öffentlichkeit umsomehr, offen für Neues zu sein, als das präsentierte Neue allzu rasch recyclet und hochgradig aufgekochter Schnee von Gestern wird: "Die Informationsgesellschaft lebt ...  in ihrer eigenen Vergangenheit. Sie kann ... gar nicht Gegenwart werden" (vgl. Reck 1994, 90). Sie verwaltet die Historie und frisiert sie durch Aktuelles auf - und umgekehrt, doch die neue Mischung verfällt ihrerseits der Entropie. Auch die Telematik, so Reck, sei von Lähmung bedroht. Sie präferiere ´nicht das Neue, sondern den Terror der Ahnen und die Alpdrücke einer universalen Ordnung der Welt´ (vgl. ebd.). Selbst wenn sich die Telematik - informationssüchtig - das Neue einverleibt, wird es nur in bekannte Strukturen eingereiht.

 Die andere Seite der Aktualitätsmedaille aber ist, daß die Informationsgesellschaft auch in ihrer Zukunft lebt und deshalb ebensowenig Gegenwart werden kann. Wenn einerseits zwar "niemand wissen kann, was morgen gilt", das Morgige aber andererseits als permanente Aktualitätsflut das Gewesene und Seiende vom Tisch räumt und die Gegenwart elektrisiert, "wirkt es fast wie ein Geschenk, daß wenigstens das Vergangene vorüber ist" (Sloterdijk 1989, 271). Da aber auch zukünftige Geschehnisse recyclet und nach der Aktualisierung im Geschichtsdepot landen werden, ist das Zukunftige potentiell schon ´abgetrieben´, noch ehe es als Gerücht in der Unterhaltungsküche des Aktuellen für informierende Verwirrung sorgen konnte. Das Aktuelle verbreitet Entropie auch an Orten und bei Ereignissen, die - zeitlich - noch vor der Feuersbrunst des Aktuellen liegen. Das Zukünftige überspringt gewissermaßen die Gegenwart, noch ehe es sich verwirklicht - hat dann aber Gelegenheit, als Vergangenheit den Angriff auf die Gegenwart zu tun. 

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinen gleichwertige Pole der Option Aktualität zu sein. Sie werden von der einen Zeit des Echtzeit-Aktuellen dominiert. Sloterdijk analysiert den Lauf der hereinbrechenden ´Weltzeit´ als eine "Phase, die keine Phase mehr sein will, sondern ein unbefristetes Kontinuum" (vgl. 1989 300).[5] Die Eigenzeit der ununterscheidbar Informationen verarbeitenden Apparate schaltet alle Zeitbezüge kurz und überantwortet sie dem "kinetischen Karfreitag, an dem die Hoffnung auf Erlösung durch Beschleunigung zugrunde geht" (ebd. 43). Das Kontinuum folgt dem Rauschen der Informationen. Sie werden dem Reißwolf der Kommunikation geopfert. Informationen können einerseits - im Zeitalter des Ablachens - alle beglücken, doch das  ´Glück´ besteht auch andererseits darin, alles konstruktiv zerreden zu können. In Entropia, dem Reich der Zerstörung, kann keine Information entkommen. So mutationsfreudig sich das Digital auch gibt, die kommunikative Revolution wird zum Multiplikator der interaktiven Wiederholungsstrukturen. Ihren Zeitbedingungen folgend hat, so Sloterdijk, ´die Gegenwart nur noch sich selbst vor sich´ (vgl. ebd. 291).

 Durch das kommunikative Feedback zwischen Apparat und Nutzer entsteht ein Teufelskreis einerseits durch den Zwang, die Apparate mit Neuem zu füttern, andererseits durch die "Sensationslüsternheit der Empfänger. Es müssen immer neue Bilder her, weil alle Bilder längst dazu neigen, langweilig zu werden" (Flusser 1990, 52). Die neuen Bilder aber verfallen ebenfalls und umso schneller dem entropischen Kreislauf, je schneller sie sich verwirklichen. So ist die negentropische Tendenz der Mutation als eine Art Perpetuum Mobile ein paradoxes Metaprogramm. Es ´entsteht eine gewaltige Flut von Programmen, deren Funktion darin besteht, Empfänger in die Funktionen von vorangegangenen Programmen zu programmieren´ (vgl. ebd. 64). Die gegenwärtig gewordenen Programme sind immer aufs neue durch Neues zu ändern, um deren Empfänger neu zu programmieren, die wiederum aufs neue Unterschiede einführen, um Programm und Empfängerprogrammierung voranzutreiben. Die je durch Programmierung enstehende, entropische Unfreiheit bewirkende Selbstprogrammierung ist immer aufs neue programmatisch zu durchbrechen. Der Zwang, endlos steigende Mutationsraten herzustellen, ist die Strafe für den Sisyphus der Neuigkeitssucht.

Muß es aber zum Problem der Entropie kommen, nur weil Information ´langweilig´ wird, sobald sie bekannt ist? Ist der Verfall des Neuen nicht womöglich eine Folge der Tatsache, daß man auf neue Informationen hin abgerichtet - programmiert - ist? Der Verdacht tut sich auf, daß Entropie erst medial zum Problem wird, da sich die Unsterblichkeit der digitalen Informationen dank und trotz Speicherung als Paradox erweist.

Information wird sinnlos, wenn sie im Augenblick ihres Bekanntwerden entropisch wird und ´verfällt´. Wenn jedes Reden entropisch infiziert wäre, muß es geradezu überflüssig sein, überhaupt reden und informieren zu wollen - eine fatale Situation, da Kommunikation konstitutiv für menschliche Gemeinschaft ist. Auch Luhmann meint: "Man muß ... zunächst erwarten, daß Kommunikation überhaupt nicht vorkommt ... man müßte ... Entropie erwarten, aber das Gegenteil trifft zu" (1988, 218): Das ´gegen die Entropie engagierte Wesen Mensch´ (vgl. Flusser 1990, 19) zeichnet sich gerade dadurch aus, evolutionär Chancen für aussichtsreiche Kommunikation nutzen zu können. Es ist das ´Phänomen der Selektion´(von Unwahrscheinlichkeiten), das der lebensweltlichen Komplexität - der ´Umwelt´ - zunächst Informationen entnimmt (und Unwahrscheinlichkeiten wahrscheinlich macht), diese aber, nachdem sie kommunikativ (kulturell) ´verdaut´ wurden, dem Verfall preisgibt - um offen für weitere Selektionen (Informationen) zu sein´ (vgl. Luhmann 1988, 218ff).

 Informationen haben lebensweltlich nicht den Anspruch, gesammelt zu werden, sondern den, kreativ neue Informationen zu katalysieren. Der Umgang mit ihnen dominiert deren Hortung. Menschlich darf vergessen werden, Informationen dürfen als überholt erachtet werden, Abfall darf verderben, der Tod ist Normalität. Demgegenüber bedeutet Reck "die härteste Drohung der telematischen Informationsgesellschaft .... daß in ihr kulturloses Vergessen hergestellt, eine Kultur des Vergessens aber verhindert wird"  (1994, 90).[6] Informationstechnologisch werden Informationen nicht komplex selektiert, sie bereichern die Digitalkultur nicht als Sinnzuwachs, sondern als Bitzusatz. Informationen werden ´unsterblich´ gemacht, wobei die ihnen innewohnenden Sinnunterschiede in der nicht-komplexen Fülle nicht berücksichtigt werden (können) und das Neue weder im Digital noch in der Lebenswelt entscheidende Unterschiede tut: Technologisch ist Entropie aufgrund von Fülle ein Problem, lebensweltlich dagegen ist Entropie aufgrund flexibler, an Komplexität gebundener Selektion eine Selbstverständlichkeit. Der Mensch verarbeitet Informationen, wohingegen Apparate nur mit ihnen haushalten. Daß die Entropie dabei Verfalls- beziehungsweise Erhaltungsprobleme bereitet, ist ein dem Speicherzwang zwangsläufig folgender Nebeneffekt.[7]  

 Ein Blick auf den lebensweltlichen Umgang mit Information veranschaulicht das Dilemma. Neue Informationen (bis dato Unwahrscheinliches) bewirken komplex sich verändernden Sinn im Kontext der ´Kultur´ (des bis dato aktualisierten Sinns). Das heißt, (komplexer) Sinn kann (über Werte, Moral und Weltbild) ´kulturell´ beibehalten werden - trotz entropischen Neuigkeitsverlusts der Information selbst. "Eine Information, die sinngemäß wiederholt wird, ist keine Information mehr. Sie behält in der Wiederholung ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert" (Luhmann 1988, 102): Sinn ist Garant von Kultur, nicht Information. Obwohl die Kultur der permanenten Erneuerung und Neuaufnahme von Sinn bedarf, kann sie sich auf ein je gefestigtes Sinnvolumen stützen. Kultur und Tradition selbst kennen kein Entropieproblem der Information, da sie Sinnsysteme sind, denen der entropische Verfall von Information notwendig ist, um (evolutionär) Platz für neue Informationen zu schaffen, um das Alte am Neuen zu messen und durch neuen Sinn kulturellen Wandel vorantreiben zu können.

Die Informationstechnologien dagegen bewirken umsoweniger Sinnsymbiosen, je mehr die Informationswerte den Sinn dominieren, ihn gewissermaßen gefangenhalten. Das Problem der Entropie potenziert sich im Digital insofern radikal, als - komplexer - Sinn nicht vermittelbar ist. Wenn die Informationstechnologien durch Speicher- und Wiederholungszwang in die entropische Kitschfalle geraten, ist das, könnte man salopp sagen, ihr Problem. Da die Apparate aber an die menschliche Lebenswelt gekoppelt sind, ist lebensweltlich ebenfalls Kitsch zu befürchten[8]: ´Es gibt keine Offenbarung, die betrifft´ (vgl. Kamper 1990, 57), wenn die Lebenswelt mit den Informationswerten infiziert ist. Über die Ausklammerung des Sinns wird sie der Entropie ausgeliefert. Die Kultur (als kommunikative Gemeinschaft) hat dann einen entropischen Zustand erreicht, der die eigene Sinnkomplexität nicht mehr kontrollieren kann und unfähig wird, neue Unwahrscheinlichkeiten sinnvoll einzubauen. Kultur und Tradition sind damit selbst Kitsch geworden. 

Obwohl Kultur und Tradition sich nicht dadurch definieren, neue Informationen herzustellen - sondern alte zu pflegen -, sind sie alles andere als entropisch. Erst sinn-los gewordene Kulturen drohen zu verfallen - Kulturen, die unter Legitimationszwang geraten und ihre Inhalte begründen müssen.[9] Bekannte Informationen sind im Gegensatz zu den Medien nicht langweilig, sie sind vielmehr - umgekehrt - Kultur. Auf dem Bekannten aufbauend garantieren sie, daß weitere sinnhafte Informationen, überhaupt hergestellt werden können. Kultur ist nicht zwingend eine Innovationsbremse. Wenn dagegen ´Patriotismus als Kitsch´ klassifiziert wird - da ´das Gewöhnliche als hübsch empfunden wird, wohingegen das Ungewöhnliche als schrecklich betrachtet wird´ (vgl. Flusser 1990b, 105) - wird das Vertraute (Patriotismus und Kultur) gegen das Dogma des Neuen ausgespielt: Kultur und Tradition haben jederzeit auf Neues zu reagieren, wollen sie weiterbestehen. Ohne Bekanntes aber, gewissermaßen im luftleeren Raum, wüßten neue Informationen nicht, worin sie sich einbetten sollten. Sie könnten keine Sinnanbindung finden. Ohne sinnrelevante Lebenswelt und aktualisierte Vergangenheit gibt es keine gesellschaftlichen Verbindlichkeiten. Lebensweltlich bedürfen Informationen der Kultur, der sie entsprungen sind. Patriotismus (und Kultur) ist nur dann Kitsch, wenn, wie Flusser einräumt, ´das Gewöhnliche nicht wahrgenommen´ wird (vgl. ebd.), wenn es der komplexen Reaktivierung von Sinn nicht mehr dienen kann.

Unverbindliche Beliebigkeit freilich droht im Reich der elektronischen Erfassung. Wenn beim ´Leben im Digital´ der Unterschied zwischen strukturellem Wissen und komplexem Sinn ignoriert wird und Informationen nur als Informationswerte kursieren, können sie nicht viel ausrichten, denn sie stiften keinen Sinn. - Der ans Digital gekoppelte Netznutzer also kann froh sein, daß er auch noch die Lebenswelt bewohnt. In ihr jedoch sollte er die postmodern ausgerufene Vergangenheitsverdrossenheit in eine Speicherverdossenheit ummünzen. Denn das ´hübsch Gewöhnliche´ des Bekannten gerät erst dann unter Entropieverdacht, wenn es als recyclete, gespeicherte Verwertungsmasse entwertet ist und im Umfeld der Informationsverschmutzung mit dem ´schrecklichen Sinn´ des Neuen umsoweniger anzufangen weiß. Sinn ist bedrohlich und wird im Digital durch das Dauerdrücken der Speicher-Taste geschickt gelöscht. Das Sinn-Neue bedroht die liebgewonnenen Strukturgewohnheiten, die nun in der Tradition des Digitals verteidigt werden. - Zwar herrscht paradoxerweise Neuigkeitssucht vor, das Neue aber soll keinesfalls revolutionäre Struktur- und Sinnveränderungen bewirken. Es soll nicht Sinn erweitern, sondern als Sinnwert eine ´Verlängerung des Alten´ sein. 

Das ´gegen die Entropie engagierte Wesen Mensch´ erwartet fatalerweise von jeder Information Errettung aus dem Zustand der geistigen Medienverwirrung und der entropischen Langeweile. Die Informationsproduktion aber entlarvt sich als Verzweiflungstat, sofern sie durch das ´Abfeuern neuer Daten in alle Richtungen´ die Orientierungslosigkeit nur steigert - Information bewirkt Deformation. So ist zweifelhaft, ob tatsächlich der Mensch das ´gegen die Entropie engagierte Wesen´ ist. Wenn im Universum tatsächlich ´die Information wichtig ist und nicht das organische Leben´ (vgl. Dotzler 1996, 161), dürfte die Informierung durch den Menschen kaum weltbewegend sein: Zwar werden - wichtigtuerisch - in Massen Informationen produziert, erst das ´Jüngste Gericht´ der Digitalauswertung aber wird zeigen, welche Informationen die kulturelle DNS bereichern werden. Der gesellschaftliche Wandel liegt nicht in menschlichen Händen, sondern in den überzeitlichen Händen des evolutionären Werdens selbst. Die informatorische Entwicklung erst zeigt, welche Informationen die Entropie überdauern werden: Nicht der Mensch, sondern die Natur ist die ´gegen die Entropie engagierte Instanz´. Der Mensch gibt zwar verzweifelt Mutationsvorschläge, doch steht deren universelle Patentierung noch aus. Die Natur, die Technokultur oder eine wie auch immer zu benennende Instanz hat den informatorischem Sondermüll zu selektieren und die Essenzen der ´universell wesentlichen Informationen´ zu destillieren. Dabei dürfte ohne Sinn entweder alles sinnlos bleiben, oder das Prinzip der Sinnlosigkeit hat sich auf neue Weise emergent zu bewähren.

 



[1]Auch Nachrichtensender senden die Informationsfraktale ohne sinnhaften Zusammenhang, sondern weitgehend 'zufällig' und nur in Abhängigkeit von der Aktualität. Es scheint uns einerseits zu beschäftigen, was uns gar nicht interessiert, andererseits ´retten´ uns die themenspezifischen Aktualitätsschleifen nur vorübergehend vor der Beliebigkeit. Sollte jenseits des aktuellen Konsens etwas interessieren, müßte man auf die Thematisierung warten beziehungsweise gezielt in den Datenspeichern wühlen. Abgesehen von ´Schnäppchen´ wird vor allem der fündig, der mit klaren Absichten kam. Ohne Suchoption sind die Reisen ins Reich des Wissens Reisen in die Sinnlosigkeit. Die Komplexität der Mediennutzer also will zwar eingelöst sein, nicht die Medien selbst aber forcieren dieses Vermögen.

[2]Brecht etwas ausführlicher: "Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheueres Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müßte demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren. Deshalb sind alle Bestrebungen des Rundfunks, öffentlichen Angelegenheiten auch wirklich den Charakter der Öffentlichkeit zu verleihen, absolut positiv" (1967, 129).

[3]Flusser weiter: "Die Leute wollen von den Bildern zerstreut werden, um sich nicht, wie dies bei einem tatsächlichen Dialog der Fall ist, sammeln, versammeln zu müssen. Sie sind froh, dies nicht mehr tun zu müssen ... Die gegenwärtige Streuung der Gesellschaft ist vom allgemeinen Willen zum Glücklichwerden getragen: Wir sind auf dem Weg zur glücklichen Gesellschaft, das Schlaraffenland ist um die Ecke ... Es ist ein Glück, das sowohl intellektuell als auch moralisch und ästhetisch auf dem Niveau der Kinderstube steht ... Jeder ist zugleich Mund, der an den Bildern saugt, und After, der das Gesaugte unverdaut an die Bilder zurückgibt" (1990, 56f).

[4]"Die Zeit ... zwingt ... dazu, Sinn und Information zu unterscheiden, obwohl alle Sinnreproduktion über Information läuft" (Luhmann 1988, 103). Denn Sinn wird der Information erst durch Entscheidungen in der Zeit abgerungen. Die Koppelung an die Informationstechnologien aber erschweren diesen Schritt, da sich das Kurzschließen an die Fülle der Information jenseits menschlicher Zeitlichkeit ereignet. Lebensweltlich erfolgt die Einfügung von Unwahrscheinlichem nach der gegebenen Ordnung des Sinns in einer Ordnung der Zeit - nicht über eine Struktur, die Informationen vor allem speichert und weiterleitet.

[5]Sloterdijk merkt an, die Vorstellung, daß ´alles in einem großen Knall endet, sei um nichts erschreckender als die, daß alles für immer so weiterginge´ (ebd.).

[6]Mit der Speicherung ist im Digital auch das Gegenteil des Speicherns: das Löschen wesentlich. Löschen heißt Auslöschen, Vernichten, noch ehe die Entropie zum Zuge kommen kann. Menschliches ´Vergessen´ aber ist demgegenüber unvergleichbar komplexer. Vergessen ist notwendig, um der Eigenkomplexität, die die zu ´löschenden´ Informationen bearbeitet hat, Platz für neue Informationen zu schaffen. Ohne Vergessen würde dem Menschen das Gehirn platzen, ja "ohne Vergessen ist kein Leben möglich" (Reck 1994, 89f). "Vergessen ist im Erinnern sozusagen als Rückspiegel ... eingebaut" (ebd. 102). Reck erinnert daran, daß "technisches Vergessen ... nur ein Löschen" und ein nicht mit dem menschlichen Vergessen vergleichbares Phänomen ist (vgl. 90). "Wenn der Vorgang des Vergessens vergißt, daß überhaupt vergessen worden ist, wenn die Form der Wiederholung nicht mehr als ausdrücklich in der Gegenwart aufscheint, dann wird die Rede von Erinnerung gegenstandslos" (ebd.).

[7]Hätte die Natur alle Erbinformationen beibehalten, wäre auf Erden der Teufel los: Saurier und sämtliche ausgestorbenen Tiere würden den Planeten bevölkern. Vor eben diesem Problem aber steht das Digital: Alle Informationen wollen zur Geltung kommen. Eine evolutionäre, komplexe und Emergenz bewirkende Aussonderung der Informationen aber kann es selbst nicht leisten.

[8]Dasselbe gilt auch umgekehrt. Wenn in der Lebenswelt im Sinne von Kitsch nur ´geplappert´ und ´geredet´ wird, wird es im Digital kaum besser kommen.  Auch "die Info-Ära", warnt Christian Lutz, drohe ´ein Zeitalter der Einweginformationen´ zu werden - mit ´passiven, auf reines Konsumentendasein reduzierten, jeglicher Mitgestaltungschancen entartenden und in ihrer privaten Lebensgestaltung auf den Scheinpluralismus zwischen Coca-Cola und Pepsi-Cola beschränkten, programmierbaren Objektmenschen´" (in: Degler 1993, 104f).

[9]Rituale beispielsweise zeichnen sich gerade dadurch aus, daß ihr Sinn nicht benannt werden muß, daß sie aber dennoch funktionieren. Rituale sind entropische Informationen, die trotz des Zustands der Vergessenheit ihrer Wichtigkeit wirken. Während Rituale ´unbefragt´ ausgeführt werden, stehen Informationen, noch ehe sie sich als Ritual verdichten, unter Beweispflicht. Ihre Kulturtauglichkeit ist kulturell erst zu prüfen.

 

 

 

weiter mit: III. STRATEGIEN DES KOMPUTIERENS