4. Jenseits des Körpers

 

Die Virtuelle Realität stellt als digitales Optimum alle bisherigen medialen Wahrnehmungsformen in den Schatten. Sie steigert alle technischen Kommunikationsformen, denn es geht ihr nicht mehr um Informierung, sondern um die Vermittlung unmittelbar wirkender Bildlichkeit. Das Bild sollte möglichst den Direktweg zum Gehirn nehmen und sowohl lästige Datenhandschuhe und Kabelwust als auch Denkanstrengungen vermeiden: Die virtuelle Realität arbeitet an der Überrumpelung, an der Korrumpierung der Sinne. Elektronische Kontaktlinsen und auf die Retina des Auges projizierte Laserstrahlen sollen eine Direktinformationstransfusion gewährleisten. Eine derartige Fernsteuerung des Gehirns mündete freilich in eine ´Industrialisierung des Sehens´ (vgl. Virilio 1992, 102).[1] Das körperliche Organ - nun techniziert - werde dabei, so die Agentur Bilwet, ´innerhalb des Menschen betäubt´ (vgl. 1993, 233).

Mit dem "Untergang des Blicks, des direkten Sehens" (Virilio 1992, 102) wäre der Körper als organisch sich in der Welt bewegender Organismus unter Quarantäne gestellt. Die Neuesten Technologien richten sich primär an die Sinne des Menschen und insbesondere an sein Nervensystem und an das Gehirn, wohingegen der ´Rest´ des Körpers kaum Interesse erfährt. Der Körper hat in der Telematie einen bedauernswerten Stellenwert: Er ist nur ein "Anhängsel des Gehirns" (Flusser 1990, 124). Flusser betrachtet den Körper als ´Spielverderber´, als ´ein notwendiges Übel´ (vgl. ebd.). Er soll sowenig wie möglich beim Komputieren stören. Doch mit den banalen Körperbedürfnissen, die sich in ihm regen, stört er. "Die selbstdenkende Biopumpe", so die Agentur Bilwet ironisch, dieser "dampfende und wasserlassende Faktor Mensch verursacht schockierende Effekte im Maschinenpark" (1993, 152).

Konsequenterweise gilt für Flusser: "Sobald sich der Körper durch nicht mehr zu reparierende Defekte ins Spiel setzt, hat die Medizin die Aufgabe, ihn möglichst reibungslos abzuschalten". Denn "wer sich für die Funktion seiner Leber oder seiner Bäckerei interessiert, verliert eine Gelegenheit, Bilder herzustellen ... Sobald sich ein einzelner Knotenpunkt im Netz (ein einzelnes ´Ich´) eines Leidens bewußt wird, gerät das ganze Netz in Mitleidenschaft ... sobald die Reparatur zu teuer wird ... wird ... Sterben ... eine dialogisch getroffene Entscheidung" (1990, 124f). Das Weltbild der ´emportauchenden Zelebralisierung´ bewirke, "daß sie uns vom Körperlichen befreit" (ebd. 116), sobald es versagt, homo ludens zu sein. Der Körper wird zum Auslaufmodell, denn die meatware ist der software zu störanfällig. Der Körper wird zum Gerät, das abzuschalten ist, sobald er Informationsstau beziehungsweise Informationsmangel erzeugt. 

Ein derartiger ´Sieg der Apparate´, der einerseits das menschliche Gehirn umzuprogrammieren trachtet, um es als Apparatprogramm zu nutzen, der andererseits den Körper zu verschrotten trachtet, geht einher mit einer ´fortschreitenden Verdingung und Versachung´ des Menschen (Flusser 1990b, 48). Flusser spricht von einer "Vernichtung des Menschen - ohne Vernichtungslager, also authentisch" (ebd. 49). Auch Baudrillard rückt die Situation in eine gewagte Analogie. Er vergleicht "das Ende ... in den Konzentrationslagern, und das Ende in totaler und zentrifugaler Expansion der Kommunikation. In beiden Fällen eine Endlösung" (1992, 109f).

Flusser ist die ´Endlösung´ eine Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen selbst, eine Möglichkeit, die der Telematie zwangsläufig innewohnt. Die automatisierte, entkörperlichende Sinnesokkupation muß in ihrer Radikalität nicht einmal wahrnehmbar sein: "Auschwitz war seit Beginn unserer Geschichte als eine der Möglichkeiten, wenn auch als ganz unwahrscheinliche Möglichkeit, in unserer Kultur enthalten. Auschwitz ist schon immer im Programm - einem Programm, das sich im Lauf der Geschichte verwirklicht - der okzidentalen Kultur enthalten gewesen" (1990b, 60). Flusser betont, daß "Auschwitz kein Verbrechen im Sinne eines Regelbruchs war, sondern daß die Regeln unserer Kultur dort konsequent angewandt wurden. Die Nazis errichteten das Vernichtungslager aus reinen Motiven ... Auschwitz war ein perfekter Apparat, der nach den besten Regeln des Westens hergestellt worden war und funktionierte" (ebd, 61).

Flusser - selbst Jude, der seine Eltern in den Vernichtungslagern verloren hat und selbst vor den Nazis aus Prag zu flüchten hatte - geht es keineswegs um Verantwortungsentlastung zugunsten einer evolutionären Entwicklung des Faschismus, vielmehr erinnert er an die Mechanismen der telematischen Apparaturen, die das ´Draußen´, das Körperliche und das Menschliche perfekt zum Verschwinden brächten: "Auschwitz verschiebt sich aus der Vergangenheit in die Zukunft ... Ist doch das Monströse an Auschwitz, daß es nicht etwa ein sich nie wiederholender ´Unfall´ war, sondern die erste Verwirklichung einer Anlage im Programm des Westens, daß es der erste perfekte Apparat war" (62f). Die "Fähigkeit, alles zu objektivieren ... führte im Verlauf der Geschichte zur Wissenschaft, zur Technik, letzten Endes zu den Apparaten. Die totale Verdinglichung der Juden durch die Nazis ... ist nur die erste der möglichen Verwirklichungen dieser Objektivität" (63).

Eine derartige Negativseite der telematischen Utopie liefern die Apparate als Gratisprogramm. Der Selbstlauf der Apparate ist Programm, da ´die Apparate mit dem einzigen Ziel funktionieren, sich selbst zu erhalten und - automatisch - zu verbessern´ (vgl. ders. 1992b, 67). Wenn dabei nicht das Nervensystem in den elektronischen Bahnen pulst, sondern die Elektronik am Nervensystem, wird der Körper zum Ort technischer Implatate und virtueller Sinnesadapter: zu einer Baustelle des digitalen Plasma. Einerseits also tarnt sich die Technik menschlich, indem sie sich als ´freundlicher Dienstleister´ ausgibt, andererseits entpuppt sich die vielbeschworene Synergie zwischen Mensch und Apparat als Apparatmonopol. 

Der Körper droht so redundant zu werden wie die Resterinnerung an die Lebenswelt, die aus Komplexitätsgründen keinen Datenraum findet. Wenn der Körper zur Kopie befreit wird, wenn dabei Weltzeit zur Nullzeit der Digitalzeit und Weltraum zu Zeitraum werden, scheint sich die Ironie Baudrillards zu bewahrheiten, derzufolge - auch eine Endlösung - der entkörperlichte, entzeitlichte, geistentwertete und entweltlichte Diginaut jede irdische Orientierung verliert. ´Das Jahr 2000 findet nicht erst statt´, wenn die Netzsurfer zeitlos in den zeitlosen Endlosschleifen zirkulieren (vgl. 1990b, 36ff). Das ´allzu Menschliche´, Emotionen, das Komplexe und die unmittelbare Weltwahrnehmung werden angesichts der technologischen Perfektion ohnehin zusehends altmodisch, informationelle Korrektheit dagegen zur niedrigkomplexen Einheitsbrille. Sie ist als ´biotechnologische Manifestation bereits Marktführer der sozialen Privilegien der virtuellen Klasse´ (vgl. Barbrook & Cameron 1996, 64). Die von der Industrie gesegneten Cybernauten, die sich begeistert bemühen, mit dem Nirvana der Bits eins zu werden, empfehlen dem so bedauernswert analogen Fernsehzuschauer denn auch, ebenfalls den ´Sprung in den Fernseher´ zu tun, denn unterwegs im Virtuellen wirke die Körperbeseitigung befreiend. Als lästiges Gepäck wird der Körper im ´Off´ nurmehr mitgeschleppt, er wird zur einer ´verlassenen Station´ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 158).   

 



[1]Timothy Leary verspricht sich von einer "Umprogrammierung des menschlichen Gehirns ... ungeahnte Veränderungen im Bewußtsein der Menschen auf der ganzes Welt ... indem sie [die ´Schnittstellendesigner´] ihnen ein Werkzeug zur Erweiterung der Kraft ihrer Intellekte geben" (1991, 275): Wenn Sinnesprothesen Gehirnfunktionen ´mutieren´ lassen sollen, ist freilich zu bezweifeln, ob vom gesunden Menschenverstand ausgehendes Komputieren überhaupt noch möglich sein kann. Als ´Anhängsel des Virtuellen´ wird der Komputator den Weg aus dem Virtuellen zurück ins Reale und zum Handeln nurmehr schwer finden. Die Agentur Bilwet teilt den Cyberspace denn auch in zwei Kategorien ein: als über Monitore erfahrbare Sinneswelt und als Sinneswelt mit Sinnesadaptern. Im ersten Fall würde man sich bewußt, daß die Kraft der distanzierten Medien unsere Abstinenz auf dem Schirm war. Im zweiten, daß der Cyberspace ersten Falls so angenehm war, weil er außerhalb unseres Nervensystems stattfand (vgl. 1993, 27).

 

 

 

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