4. Information als Kritik

 

Es gibt laut Luhmann "nicht im gleichen Sinne wie beim Widerspruch des Wortes gegen das Wort einen Widerspruch des Bildes gegen das Bild" (1996, 80). Bildkompatibler Widerspruch müßte selbst ein Bild sein, wollte er der Dimension Bild gerecht werden. Er wäre eine Gegenkomputation - doch bliebe eine Komputation. Gibt es also einen Widerspruch gegen das Bild an sich? Ein derartiger Widerspruch müßte das Bild bildtranszendent und frontal treffen. Da seine Bausteine aber auf Informationen angewiesen wären, führte er ebenfalls nur zur Komputation. Das Bild scheint selbstidentisch nur weiterkomputiert werden zu können.

Auch ein Widerspruch des Wortes gegen das Bild handelt im Digital mit Komputationen bedingenden Informationen. Der ´wortfähige´ Sinn entstammt zudem der ´anderen Ontologie´ des ´historischen Selbstverständnisses´, er liegt weit hinter der Informationsdichte eines Bildes zurück. Erst in sinnabstrahiertem Zustand, erst als Information wird er digitaltauglich. Doch Informationen können wiederum keinen grundsätzlichen Widerspruch gegen das Bild auffahren - er würde als neue Komputation ebenfalls nur affirmativ der Bildlichkeit entsprechen. Welchen ´Sinn´ haben dann aber die Informationen, die ´größer´ sind als deren Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit und die die Bilder als Bilder beeinflussen oder angreifen wollen? Gibt es im Reich der Kommunikation ein Handeln jenseits der Einbildungszwänge? Der Verdacht liegt nahe, daß die Information die Krankheit ist, die sie bekämpfen will.

 "Wo alle Menschen Kritiker sind, sind sie zugleich ... Kritiker aller anderen" (Flusser 1990, 103), so lautet die demokratische Verheißung der Telematie. In den Hypertexten der Kommunikationsnetze ist jeder zur freien Meinungsäußerung geladen. Da Informationen Unterschiede bewirken, müßte die Kritik eine überaus edle Form der Informationen sein: sie schafft gewaltig Unterschied. Kritik ist hochwertige Information. Sie greift durch Unterschiede die vorangegangenen Informations-, Netz- und Bildzustände an und ändert sie negativ entropisch. Doch bezüglich der strukturellen Verarbeitungsweise unterscheidet sich die Kritik im Digital weder von der Information noch von der Komputation. Sie bewirken gleichermaßen nur Unterschiede: Komputation und Information sind Kritik - und umgekehrt.

Mit Moles wird deutlich, wie sich die Kritik zur Komputation verhält: "Die Definition des Schönen ergibt sich aus einer Statistik über das Schöne. Das ist eine Art von Antwort, die die Ästhetiker bisher kaum in Betracht gezogen haben; die Idee des Maßes verträgt sich nicht mit der Idee der Transzendenz, die die Philosophen vertreten" (1973, 95). Ebenso wird die Kritik dank des Maßes und der Codes in Strukturen gebettet und - neutralisiert - in eine Statistik über die Kritik übersetzt. Kritik wird strukturell erfaßt, da sie anders nicht handhabbar ist. Eine Statistik über die Kritik aber ist sowenig Kritik, wie eine Statistik über das Schöne schön sein kann. Beides wird als Informationswert nur verteilt und mit Netz- und Bildzuständen gemischt. Kritik ist, wie jede Information, nur Futter der fraktalen Informationsmetamorphosen.

Die Kritik also erlebt eine Metamorphose. In der Lebenswelt war sie noch eingebettet in menschliche, also komplexe Begreifbarkeit. Kritische Informationen konnten Horizonte erweitern. Kritik konnte sogar verletzen. Zwar kann Kritik auch im Digital gelesen werden und betroffen machen, im Verschiebebahnhof Digital selbst aber hat sie ihre imaginierende Wirkung verloren, denn Information ist dort ihrer Wertigkeiten überlassen. Sie ist eine sich selbstreferentielle, an andere Informationen nur anschließbare Informationseinheit, die nur Unterschiede nach sich zieht. Sie ist sammelbar, speicherbar und komputierbar, als Bit-Sammlung aber kann sie die eigene Reduziertheit nicht übertreffen. - Virtuell wie sie ist, kann Kritik zudem unvergleichbar leicht ignoriert werden.

Lebensweltlich ist Kritik komplex gebunden an Sinn, ans Fleisch, das verwundbar ist. Im Digital aber überwindet sie den Status ihrer meßbaren Wertigkeit nicht. Zwar ist jede Komputation Kritik - und umgekehrt, sie ist es aber nur, weil die Definition der Information (Kritik) nicht dem Unterschied zwischen Sinn und Informationswert folgt. Kritik hat im Digital nichts zu tun mit ihrer Schlagkraft, denn nicht Sinn ist wichtig, sondern die fraktalen Wertigkeiten und apparatinternen Verbindungen der Strukturbedingungen. Was lebensweltlich als kritischer Sinnunterschied auszumachen war, wird als Wertunterschied nur in die Selbstsensorik der Informationsverarbeitung eingestrickt. Winkler spricht davon, die Inhalte würden " in die Technik hinein ´vergessen´" (1997, 361).

Für lebende ´Systeme´ gilt: "Ein System, das sich zwingt, seine Zustände laufend zu verändern, [ist] genötigt, seiner Umwelt Informationen zu entnehmen" (Luhmann 1988, 80). Den in sich geschlossenen Netzen aber fehlt die nötige Eigendynamik, sich - an einer ´Umwelt´ reibend - zu wandeln. Während lebensweltlich "ein hinreichend stabiles System aus instabilen Elementen" durch die Komplexität garantiert ist (vgl. ebd. 78), sind die Netze nicht flexibel genug, Instabilitäten selbst zu erzeugen beziehungsweise wahrzunehmen. Sie bedürfen des Interfaces Mensch. Auf sich alleine gestellt verfällt das Digital augenblicklich der Entropie, da es selbst (nicht-komplex) keine Unwahrscheinlichkeiten schöpfen kann. Es bedarf des Interfacekontakts zur menschlichen ´Umwelt´: Es ist auf die menschliche Komplexität angewiesen. Der Tasten drückende Affe Mensch ist also bei Laune zu halten, weiterhin neue Informationen bereitzustellen. Die Programme, die ihn nähren werden, sind zu füttern.

Jede neu gesetzte Komputation und jede Kritik bewirkt Unterschiede, die auf sich selbst verweisen, nicht aber auf die Komplexität, der sie entsprangen. Flusser erkennt deshalb zu Recht, "von einer Kritik ist ... im herkömmlichen Sinn des Wortes in Zukunft nicht mehr zu sprechen ... Was wir befürchten ... ist der Untergang ... des kritischen Entzifferns. Wir befürchten, daß in Zukunft alle Botschaften, insbesondere die Wahrnehmungs- und Erlebnismodelle, unkritisch hingenommen werden, daß die informatorische Revolution die Menschen in unkritisch permutierende Empfänger von Botschaften, also in Roboter verwandeln könnte" (1992, 70). Da Kritik denselben Kriterien wie Information und Komputation unterliegt und nur ihr Informationswert zählt, werden kritische Informationen durch ihre Bildwerdung sinnlos. Sie sind ihrer kritischen Schlagkraft beraubt.

Umgekehrt aber wird auch der Rezipient selbst durch ´entwertete´, genauer gesagt: durch in die Struktursysteme ´eingewerteten´ Informationen, ent-kritisiert. Wenn die Programme rückwirkend die Programmierer und Nutzer programmieren, werden sie selbst in die kritikneutrale Strukturlogik einorientiert. Wenn Luhmann fragt, "ob es überhaupt noch gesellschaftliche Positionen gibt, von denen aus Wissen repräsentativ vertreten und mit entsprechender Autorität kommuniziert werden kann" (1992, 171), so scheint die ´Autorität der Kritik´ auch lebensweltlich der informatorischen Einebnung zu weichen. Flusser gesteht, es "verwandelt sich für die Empfänger ... in Entropie, was als negative Entropie in die Apparate programmiert war" (1990, 20). Gegen diese ´Robotrisierung´ hülfe nur, weiter Informationen zu produzieren und kritisch weiterzukomputieren - doch um den Preis, den paradoxen Teufelskreis der entropischen Zirkulation nur weiter zu steigern: Die Kritik wird unter dem entropischen Zwang der Verwertung kritikuntauglich. Kritik kann zwar gelesen werden, doch ihre Wirkung wird nur kommunikativ verwaltet werden können. Kritik wird zur Komplizin der digitalen Zuwachsraten.

Die entropische Gleichverteilung des kritischen Wissens ist freilich kaum bemerkbar, da die Ablenkung durch - auch kritische - Daueraktualitäten kollektive Erregung erzeugt. Obwohl Wissen vielseitig und kritisch kombinierbar ist, täuscht die Erregung darüber hinweg, daß das Angebot beliebig und niedrigkomplex bleibt. Für Luhmann ist "für einen Beobachter ... ein System entropisch, wenn eine Information über ein Element keinerlei Rückschlüsse auf andere zuläßt. Das System ist für sich selbst entropisch, wenn ... jedes mögliche Nächstelement gleichwahrscheinlich ist ... und ... zum Zufall wird" (1988, 79f). Beides trifft für die an die Apparate gebundene Menschheit zu: Kritische Informationen sind im Digital zwar beliebig anschließbar, die gleichwahrscheinliche und nicht-komplexe Beliebigkeit der Möglichkeiten aber kappt - fraktalisierend - die sinnbeladenen Rückschlüsse. Der ´freieste´ Komputator, der besagte ´Affe´ nutzt den blinden Zufall als optimale Komputationsgrundlage nicht des Sinns wegen, sondern zur einschaltquotenartigen Steigerung der Erregungsraten. So wird der Prozeß der Entropie auf einer intensiveren Beschleunigungsebene potentiert, auf der auch jeder Kritik die Luft ausgehen muß: Alles ist gleichermaßen Kritik, alles gleichermaßen Information, alles verfällt gleichermaßen rasch der Entropie, alles verzichtet gleichermaßen auf komplexe Wirkung. [1]

Flusser bestätigt den Teufelskreis als undurchbrechbar, als Macht, die, sich selbstreferentiell erhaltend, wirkt - mit Funktionär ist der Komputator gemeint: "Die Funktionäre schreiben den Bildern vor, was sie dem Empfänger vorzuschreiben haben. Die Apparate schreiben den Funktionären vor, wie sie die Bilder vorzuschreiben haben. Und andere Apparate schreiben diesen Apparaten vor, was sie den Funktionären vorzuschreiben haben. Durch all diese scheinbare und sich selbst verschlingende Hierarchie von Vorschriften hindurch ist die allgemeine entropische Tendenz zu einem kosmischen Metaprogramm ersichtlich, und niemand und nichts außer dieser sturen Eigendynamik steht ´dahinter´" (1990, 65).

Die informationserzeugende Interaktion also erweist sich insofern als Etikettenschwindel, als die Apparate nur das ermöglichen, was in ihnen strukturell vorgesehen ist. Auch Luhmann analysiert diese ´Universalzuständigkeit für die eigene Funktion´ der Massenmedien: Das System könne "nur das tun, was intern nach Struktur und historischer Lage des Systems anschlußfähig ist". Es könne sich "um alles kümmern, was für die eigene Kommunikation thematisierbar ist" (vgl. 1996, 50): "Das Identifizierte wird in ein Schema überführt, bezeichnet und dadurch bestätigt" (ebd. 74). Dieser Selektion liege ein "Zusammenhang von Kondensierung, Konfirmierung, Generalisierung und Schematisierung zugrunde, der sich in der Außenwelt, über die kommuniziert wird, so nicht findet". ´Sinnkondensate´ entstünden als "´Eigenwerte´ des Systems", die "nicht darauf angewiesen [sind], daß die Umwelt sie bestätigt" (vgl. 74f). Was immer also in der Lebenswelt sagbar war und Wirkung zeigen konnte, wird im Digital automatisiert und entropisiert. Das digitale System selbst ist die Entropiefalle. Da sich keine Information und keine Kritik als Sinnvirus auszubreiten vermag, ist das Digital selbst als ein - Informationen fressender - Virus zu klassifizieren.

Die Strukturbedingungen der Apparate lassen sich weder wegkomputieren noch wegprogrammieren: Kritisch komputierte Verneinung fußt auf der Diskursstruktur des Netzes. Information (und Kritik) hat sich in ihren Gesamtzustand einzupassen - andernfalls ließe sie sich nicht lagern und die Lageralgorithmik (die Diskursstruktur) muß erst geschaffen (komputiert) werden, um die Kritik ´einzufangen´. Das heißt, ´die Apparate assimilieren automatisch die Befreiungsversuche, informative Bilder herzustellen´ (vgl. Flusser 1992b, 68) - Bilder, die die Ontologie der Digitalspeicherung übertreffen. Mehr noch: ´informative Bilder sind im Programm gar nicht vorgesehen´ (vgl. ebd. 63). Komputationen sind a priori eine Funktion des Programms, sie sind als Möglichkeit strukturell und potentiell stets schon vorgegeben.

Innerhalb der Digitallogik führt der Komputator nur das aus, was die Apparate strukturell zustandebringen - ohnehin zustandebringen. Die Hoffnung, man werde bei Computerspielen eine Welt entdecken, die von den Programmierern gar nicht angelegt war, ist so absurd wie die Erwartung, Information und Kritik als strukturübertreffende Kräfte einsetzen zu können: An einer digital ´wertfrei gewordenen Welt´, so Flusser, ´gibt es nichts zu kritisieren´ (vgl. 1992, 73). - Kritik im historischen Sinn scheint nur möglich durch ein, wie Sloterdijk es nennt, ´Sichausklinken aus dem Beschleunigungsprozeß´ (vgl. 1989, 70) der digitalen Allroundverwertung.

 Je besser die Informationstechnologien laufen, desto entropischer und informationsloser die Informationen. Flusser erkennt zu Recht, "ein Vorteil der künstlichen Intelligenzen ist, daß sie problemlos vergessen können" (1992, 131). Die Speichertaste ist bereits eine tilt-Taste des Sinns. Damit verkehren die Informationstechnologien den Begriff der Information in sein Gegenteil, denn die Information macht Unterschiede nur auf der Ebene eines sich verändernden Bankkontos. Sie kann verrechnet werden und ändert Zustände, sie bereichert Datenbanken, doch agiert fern jeder kommunikativen Praxis. Seit die entropische Seuche die Informationen zu verschlucken begann, noch ehe sie zur Geltung kommen, läßt sich mit allem immer weniger sagen: Information ist, was keinen Unterschied mehr macht.

 



[1] In diesem Dilemma ist - mit Luhmann gesagt - ´weniger als je zuvor zu erwarten, daß die Natur physikalisch oder daß das Sein metaphysikalisch hilft´ (vgl. 1992, 211), - die komplexe Natur wurde simulatorisch in die Inkompetenz getrieben, und die Metaphysik steht unter der ´Schutzhaft´ ihrer Nicht-Meßbarkeit.

 

 

 

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