3. Wissen sucht Sinn

 

Weder können die Apparate der menschlichen Schriftwahrnehmung noch kann der Mensch der Digitalvermittlung gerecht werden. Das geradezu paradoxe Verhältnis von Informationsangebot und -vermittlung entspricht einem Mißverhältnis von Informationsspeicherung und -rezeption. Die Informationsvermittlung, die selbst nie weiß, was sie vermittelt, scheint trotz der Interfaces den Sinn außen vor zu lassen. "Der Cyberspace", so Lévy, "bedeutet keineswegs, daß jetzt alles zugänglich sei, sondern vielmehr, daß das Ganze endgültig außer Reichweite ist" (1996, 8).

 Die Wissensvermittlung freilich stand schon immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Welt und Mensch. Welt und Mensch waren einander nie identisch, sondern durch Wahrnehmung und Erfahung immer nur in einer spezifischen Beziehung aufeinander abgestimmt. Virilio weist darauf hin, daß "in den vergangenen Jahrhunderten die verfügbaren Kenntnisse zwar weniger umfassend waren, die Erkenntnisse damals paradoxerweise aber auf Totalität aus waren" (1990, 169).[1] Was gewußt wurde, war wahr. Ob magisch, religiös oder feudal geprägt, die persönlich überblickbare, medienarme Umwelt war der Wissenslieferant für eine Wissensgewißheit, die weder fraktalisiert noch durch Gegengutachten bezweifelt wurde: "Es gab eine Zeit, da half die Information den Menschen dabei, dringende Probleme ihres Lebens zu lösen, indem sie ihr Wissen von ihrer physischen und gesellschaftlichen Umwelt erweiterte. Es trifft zu, daß im Mittelalter Informationsknappheit herrschte, aber gerade ihre Knappheit machte die Information wichtig und nutzbar" (Postman 1992b, 62). Heute dagegen habe ´die Information für den gewöhnlichen Menschen keinerlei Beziehung mehr zur Lösung von Problemen´ (vgl. ebd.). Einst mußte man auf den Rest der Zitate, die man gar nicht kennen konnte, nicht auch noch verweisen. Die Brillen des Ego genügten. Heute dagegen ist dem Ego nicht mehr zu trauen.

  Heute sind die Neuen Medien die ´Brillen´, denen getraut werden muß. Sie katapultieren das Wissen in eine neue Umlaufbahn. Der informationstechnologische Höhepunkt des ´Zeitalter des Wissens´ (vgl. Lévy 1997, 17) erstellt die ´Infraktruktur des Wissens als kartographischen Raum´ (vgl. ebd. 34), dessen Navigationsbedingungen die herkömmliche Informationsaufnahme in Bedrängnis bringt. Angesichts des ´Take Off numerischer Zeichen ist das Alphabet nur ein Vorspiel´ (vgl. Kittler 1993, 154). Die Schrift liegt dem Digitalen so weit zurück wie dereinst das Mündliche der Schrift.

Die Kluft zwischen Mensch und Wissen freilich war schon durch das Buch medienbedingt. Sowohl Bibliotheken - als Urahn der Informationstechnologien - als auch Computer bewahren das Wissen jenseits der lebensweltlichen Unmittelbarkeit. Für beide gilt gleichermaßen: "Auf der einen Seite schwebt die Bibliothek ... auf der anderen Seite steht die Welt der Phänomene" (Flusser 1989, 48) - die Lebenswelt. Bereits das Schriftliche trennte das Wissen von der Unmittelbarkeit des Erzählens, Kommunizierens und Erfahrens. Wissensanhäufung war fortan der Erfahrung vorgeschaltet und das Textliche hatte die Probe zu bestehen, gelesen zu werden, ehe sein codiertes Wissen bildlich imaginiert werden konnte.

Indem kommunizierte Extrakte durch die Schrift aufbewahrbar und unabhängig von den lebenden Interaktionsteilnehmern abrufbar werden, aber erreichen sie zeitunabhängig auch Nichtanwesende und ´entlasten vom unmittelbaren Druck der Interaktion´ (vgl. Luhmann 1988, 128): "Schrift und Buchdruck ... sind ... kommunikativere Formen der Kommunikation, und sie veranlassen damit Reaktion von Kommunikation auf Kommunikation in einem sehr viel spezifischerem Sinne, als dies in der Form mündlicher Wechselrede möglich ist" (ebd. 224). Das in den ´Warteschleifen´ der Speicher bis zu seinem Abruf ruhende Wissen kann jederzeit der Kommunikation dienen und in spezifischen Kontexten zu weit aufregenderen Erkenntnissen führen als durch ´Gespräche vor Ort´. Einerseits also kann die Interaktion vertagt werden, andererseits aber droht dies Ausweichmanöver zu späterer Zeit zu Informationsstau[2] zu führen: Schon der "Buchdruck multipliziert das Schriftgut so stark, daß eine mündliche Interaktion aller an Kommunikation Beteiligten wirksam und sichtbar ausgeschlossen wird" (Luhmann 1996, 33f). Die herkömmlichen Medien intensivieren diese Kommunikationshürden, indem sie Informationen en masse verbreiten, jedoch keinen kommunikativen Raum zur Verfügung stellen.

Erst die Datennetze scheinen der ´kommunikativeren Form der Kommunikation´ gerecht zu werden, da sie zu Interaktion und zu Direktkommunikation einladen. Internetdialoge sind Direktkommunikation, der die Informationen in geradezu verflüssigtem, elektronisch fließendem Zustand zur Verfügung stehen. Während Bücher erst zu lesen sind, kann auf die Bilder in Echtzeit reagiert werden, wodurch der Informationsstau verringert zu werden scheint. Neu hinzukommendes Wissen intensiviert in den Datennetzen den kommunikativen Austausch und hebt die Kommunikation auf ein emergenteres Niveau. 

Allein durch die ´kommunikativere Form der Kommunikation´ aber ist eine inhaltsvolle Kommunikation noch keineswegs garantiert. Informationen, die verschickt werden, sind so uninformativ wie Bücher, die verschickt werden. Erst das Lesen und Rezipieren der Informationen setzt die kommunikativen Potentiale frei: Die Informationen müssen nach wie vor imaginiert werden. Erst durch menschliche Anteilnahme ist Kommunikation ´kommunikativer´ gestaltbar und das emergente Niveau zu erreichen. Ebenso wollen Bilder imaginiert werden. Sofern sie ´etwas zu sagen haben´ und ihre Botschaft nicht mit dem Medium identisch sein soll, bedarf es der ´Kunst des Sehens´. Dies Geschick ist bei virtuellen Bildern umsomehr gefordert, als sie die Imagination freihaus bieten. Demzufolge wäre die Wahrnehmung nur eine Durchgangsstation der Bilder. Sie würden - quasi offenen Mundes - nur wahrgenommen, ohne aber etwas bewirken zu müssen. Angesichts der Informationsdichte der Neuen Bilder hat die Wahrnehmung umso emergenter und intensiver zu reagieren.

Text und Bild also sind zwar zweierlei, beide Medien aber bedürfen - auch bei Digitalvermittlung - der Imagination. Beide Medien aber halten die Imagination unterschiedlich in Schach - die Schrift in den Buchstaben, die Neuen Medien in Bits und Pixels. Um die kommunikativen Kompetenzen von Mensch, Buch und Apparat erkennen und vergleichen zu können, ist die Unterscheidung der zwischenmenschlichen Kommunikation von der Kommunikation des Menschen mit den ´transzendenten Speichern´ - den Bibliotheken und Computern - wesentlich. Eine weitere Unterscheidung hebt sich von der apparatinternen Kommunikation ab.

In der ´Welt der Phänomene´, der Lebenswelt agiert der Mensch als ein Informationen komplex verarbeitendes Wesen. Intuition, Erfahrung, Emotion und Lernen befähigen ihn, in der ihrerseits komplexen Lebenswelt zurechtzukommen. Auf den ersten Blick scheint der Umfang der aufbewahrten und gespeicherten Informationen einen Komplexitätsgrad erreicht zu haben, der die menschlich komplexe Wahrnehmungsweise weit überfordert. Sie scheinen der Definition Luhmanns für Komplexität gerecht zu werden: "Bei Zunahme der Zahl der Elemente ... stößt man sehr rasch an eine Schwelle, von der ab es nicht mehr möglich ist, jedes Element zu jedem anderen in Beziehung zu setzen" (1988, 46). Derartige Komplexität bedingende Unüberblickbarkeit ist dem Menschen bezüglich seiner Lebenswelt selbstverständlich: die ´Umwelt´ - im Sinne Luhmanns ein Sinnvolumen - ist stets ´größer´ als das je aktivierte Wissen. Die Welt war noch nie überschaubar. Die Lebenswelt und die komplexe neurophysiologische Verarbeitungsweise des Menschen sind bezüglich ihres Komplexitätsniveaus ´kompatibel´, da sich der Mensch trotz des Komplexitätsüberschusses der ´Umwelt´ in ihr komplex zurechtfinden kann.

Definiert man Komplexität als eine Dichte, die nie durchschaubar ist, als ´Maß für Unbestimmbarkeit oder für Mangel an Information´ (vgl. Luhmann 1988, 50), so wird deutlich, daß das schriftlich Gespeicherte in seiner Fülle zwar unüberschaubar ist, doch wurde es von Menschen geschrieben und bleibt - theoretisch - auch rückwirkend nachvollziehbar. So unüberblickbar, schwer verständlich und imaginationsoffen Schriftwissen auch sein mag, die Komplexität wohnt nicht den Buchstaben inne, sondern entzündet sich erst durch die Rezeption, indem das Wissen die menschliche Erfahrung nährt und beispielsweise hermeneutische Probleme heraufbeschwört. Nicht bereits die Buchstaben und Worte entzünden Komplexität, sondern die in ihnen schlummernden Bilder. Das Lesen ist der komplexe Akt, nicht bereits die Speicherung. Das Lesen hebt das Gelesene in den komplexen Zustand des Lebensweltlichen. Dort agiert "Sinn ... in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns" (Luhmannn 1988, 93). "Sinn ist ... Wiedergabe von Komplexität" (ebd. 95), er fördert ein "kombinatorisches Bewußtsein" (134), das das Komplexe komplex bearbeitet.

 Zweifelsohne steigerte die Buchkultur das menschlich komplexe Imaginationsvermögen. Nicht nur Gedichte, auch wissenschaftliche Texte bedürfen guter Geistesübung und trainieren das Denken in Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit.[3] Auch die Datenverarbeitungsapparate werden die menschliche Datenverarbeitungsweise steigern. Dies bedeutet aber weder, daß die Informationstechnologien selbst komplex arbeiten, noch daß die Kapazitätssteigerung des Speicherns komplex genannt werden kann. Die digitalen Speicher sind schließlich menschlich installiert, programmiert und informiert, und damit ebenfalls - so kompliziert ihr Aufbau auch scheinen mag - durchschaubar. So viel Wissen auch gespeichert ist, die Speicherung selbst ist nicht komplex. Erst die komplexe Wahrnehmung entzündet die ´Poesie´ des Digitals.

 Das ´Geschick´ der Neuen Technologien liegt zwar in der Speicherkapazität und der Kombinatorik von Daten, nur menschlich aber ist ein Erfahren des Sinns möglich. Zwar übertreffen Computer das menschliche ´Geschick des Merkens´ um das Vielfache, deren Datenverarbeitung aber ist alles andere als Denken. ´Wir können uns zwar ein Buch vorstellen, das ein paar Zentimeter dick ist, aber keines, das ein paar Kilometer dick ist´. "Wir haben kein Gefühl für solche Quantitäten", sie übersteigen das menschliche Fassungsvermögens, so Negroponte über die Dimensionen der Datenverarbeitung (vgl. in: Brand 1990, 97). Die Informationstechnologien also vermitteln primär Quantität. Von Qualität ist nicht die Rede.[4] Sie vermitteln ´kilometerdick´ Informationen und vermögen Komplexität (Qualität) zwar in Simulationen hochzurechnen, das Hochrechnen selbst aber ist nicht komplex, sondern kalkuliert, programmiert und folglich überblickbar: Wird die digitale Datenverarbeitungsweise komplex genannt, liegt eine Verwechslung von Fülle mit Komplexität vor. Die Verarbeitung erscheint nur komplex.

Während Texte den Sinn in Buchstaben pressen, ihn in Kapitel verteilen und in Bibliotheken ordnen, preßt die Datenverarbeitung das Digitalisierte in Bits und Pixels, ordnet sie nach algorithmischen Regeln, verteilt sie in Dateien und vertreibt sie auf den Netzen. Die Sinnverteilung des Digitals ist millionenfach komplizierter als die des Buches. Doch so komplex die Strukturen der Datenkombinatorik auch erscheinen, sie bleiben rückwirkend entschlüsselbar und sind damit ebenfalls nicht komplex. Struktur ist zwar auch eine Grundlage lebensweltlicher Komplexität,[5] im Falle der Informationstechnologien aber erfüllt sie ´nur´ die Funktion der Organisation des Vermittelbaren. Struktur stellt Netzwerkverbindungen und Anwenderhilfen, um die Informationsfülle beisammenzuhalten, zu speichern und zu leiten. "Jede Kommunikation in und mit Massenmedien bleibt gebunden an die Schemata, die dafür zur Verfügung stehen" (Luhmann 1996, 207), wohingegen die lebensweltlichen Strukturen der Sinnvermittlung strukturüberschreitende Potenziale freisetzen: Die Informationstechnologien überfordern den Menschen zwar hinsichtlich des Rechenvolumens und der strukturellen Exaktheit, unterfordern ihn aber qualitativ, da sie - unpoetisch - das Denken und Imaginieren weder leisten noch mitliefern. Bezüglich des ´Merkens´ übertreffen sie den Menschen, bezüglich einer komplexen Verarbeitung dagegen unterliegen sie ihm. Lebensweltlich verweist Struktur über Kommunikation auf Sinn, technologisch verweist Struktur fraktal auf sich selbst.

Der Mensch ist ein auf Komplexität (Qualität), nicht ein auf Vielheit (quantitative Strukturbandbreite und Informationsflut) konditioniertes Wesen, weshalb ihm die Monokultur der auf ´reine Struktur´ sich stützenden Apparate nicht gerecht werden kann. Irrtümlicherweise wird das menschliche Erinnern dem funktionalen Abrufen von Daten gleichgesetzt. Apparatisches Datenabrufen aber ist eine "´sprecherlose´ Kommunikation" (Fiehler 1994, 526). Menschliche Kommunikation dagegen ist mehr als Datenabfragen, denn das Gedächtnis konnotiert das Erinnerte in die jeweilige aktuelle Situation, und erinnerte "Konstruktion verändert permanent, was sie konstruiert" (vgl. Reck 1994, 96f).[6] Es stimmt, daß Computer sich alles merken können. Das Wissen aber tut noch keine Wirkung, solange es nicht an die lebensweltliche Sinnkomplexität zurückgebunden wird. Auch Schüler werden dem Stoff, den sie - analog oder über Computer - zu lernen haben, nicht gerecht, indem sie ihn nur auswendiglernen, sondern erst, wenn er sie als Kategorie Erfahrung ´ergriffen´ hat.

Da in der Datenkommunikation ´alle Datenflüsse (Informationen, Ereignisse) das Nadelör des Symbolischen der Buchstaben und Zahlen durchwandern´, folge, so Rudolf Maresch, "die Emanzipation der Zahlen und Buchstaben von semantischen Zusammenhängen" (vgl. 1996, 18ff). Die Verwertbarkeit des Sinns entbindet ihn der Imagination. ´Die gesprochene Sprache bleibt von vornherein außer Betracht, wenn nur zählt, was schaltbar ist´ (vgl. Kittler 1993, 182) - und mit ihr der Sinn. "Das uralte Monopol der Alltagssprachen, ihre eigene Metasprache zu sein", so Kittler, sei "zusammengebrochen und einer neuen Hierarchie der Programmiersprachen gewichen" (ebd. 228). Da "sich die gesamte Wirklichkeit auf die Seite des Zeichens geschlagen hat" (Lévy 1997, 171), scheint das "Basistheorem vom Menschen als Herrn der Sprache zweifelhaft" geworden zu sein (Kittler 1993, 150).[7]

Doch auch das schriftlich Codierte kann nicht mehr viel ´sagen´, wenn es das Niedrigkomplexitätsniveau der Medienvermittlung imitiert. So aufgeklärt sich das Schriftdenken auch wähnt, sein Wissen folgt dann nicht dem Weitblick komplexen Denkens, sondern der fraktalen Innenschau nur aufzähl- und verschaltbaren, aber nicht unmittelbar wirkenden Wissens. ´Das Denken spielt dann im Verhältnis zum Gedachten so gut wie keine Rolle mehr´ (vgl. Sloterdijk 1989, 79).

Zieht das Lesen eines Buches eine imaginierende Kraftanstrengung nach sich und gilt die Schrift als ein ´Schatz des Geistes´, so wird die Lage bezüglich der ´digitalen Schätze´ kompliziert, da die Bedeutung an die Programmierbarkeit, Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit delegiert wird. Gelten Kommunikation und Informierung als rein technische Vorgänge, wird das Denken arbeitslos. Erst das menschliche Denken vermag die Buchstaben und Zahlen ins Semantische zurückzuholen. "Information", so warnt Frieder Nake, "hat keinen Dingcharakter, kann deswegen nicht abgefüllt und übermittelt werden, geistert dennoch in dieser Form durch die Diskussion" (1994, 543). Information werde vielmehr hergestellt und verstanden, "indem wir uns in unserer Umwelt bewegen und verhalten. Sie kann nicht von uns abgenommen, gespeichert, übertragen und manipuliert werden" (sich auf Varela berufend, ebd.). Wird sie dennoch abgenommen und gespeichert, hat sie der Rezipient mit seinem komplexen Vermögen umso kraftaufwendiger zum Leben zu erwecken, sie kommunikativ und imaginativ in seinem sozialen Prozeß zu aktivieren. Für sich gesehen dagegen verbleibt der technologische Datenabruf in der ´Totalität des nur Wißbaren´, ohne Reflexionen mitzuliefern.

Sosehr die Medien zur produktiven Erinnerung notwendig und wichtig sind, von sich allein kann weder medial noch multimedial vermitteltes Wissen zu dem führen, was noch Goethe mit (komplexer) Weisheit hätte verbinden können - der Begriff bereits klingt antiquiert. Vor dem Medienzeitalter war das Wissen an Erfahrung gebunden, heute aber ist das Medienwissen eine Informationsansammlung, die einer Erfahrungsdichte nicht vergleichbar ist . [8] Das Wissen - heute als Information gehandelt - hat als Jetzt-Zeit-Berieselung vor allem konsumierbar zu sein, denn Wissen vertiefende Informationen und Bildung sind den Kommunikationssystemen ein allzu zeitraubender Aktionismus. Informationen sollen sogar möglichst schnell vergessen werden, damit neue Info-Kost nachgereicht werden kann. "Informationen dürfen nicht zu sehr beunruhigen" (Sontheimer 1996, 223): ´Tagelanges Nachdenken ist für Medien wirtschaftlich unsinnig´ (vgl. ebd.) und allzu lange Reflexionen blockieren die Netzkommunikation und bestrafen den ´Denker´ mit dem Bildschirmschoner und hohen Telefonrechnungen. Bildung ist den Informierungsstrategien eine äußerst umständliche Art der Informierung - ´Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kalkül dominieren prudentia´ (vgl. Luhmann 1988, 528). Einst also ging man vom Menschen aus, der - auch über Bibliotheken - komplex wahrnahm, heute geht man vom Wissen aus, das, gesammelt, fraktal und nicht-komplex nur zur Verfügung steht.

Daß freilich schon Goethe Schwierigkeiten mit der Dialektik von Wissen und Erfahrung hatte, gesteht er durch sein "habe nun, ach ..." (vgl. 1984, 13). Bereits seine Bibliothek drohte das Wissen der Struktur - der Lagerung - auszuliefern. Bereits Goethe sah die Schwierigkeit, es komplex in die Dimension der Erfahrung ´zurückzuerobern´. Die Schrift als Erfahrungsersatz eröffnete den Anfang der Erfahrungsreduktion, sie war die ´erste Dekontextualisierung der Sprache´ (vgl. Lévy 1997, 170) und entmündigte in ihrer Weiterentwicklung zur Enzyklopädie noch das komplex zu imaginierende Buch. Die Bibliotheken und Enzyklopädien erlaubten, Wissen allgemein, strukturell und linear zu ordnen.

Zwar hat sich in der Bildungsexpansion der Aufklärung der Anspruch durchgesetzt, alles wissen zu müssen, die komplexe Einordnung des Wissens aber wurde peripher. Über das als Wissensquerschnitt verankerte Allgemeinwissen verkam Bildung zu meßbaren Informationseinheiten und letztendlich zu Instant-Bildung, die nicht komplex sein will, sondern strukturell zu konsumieren und zu merken ist.[9] Allgemeinwissen ist vermittelbar, schon tausendmal abgeschrieben, eingeordnet, abstrakt und ´entbildert´, jedenfalls fern von Unmittelbarkeit und komplexer Dichte. Es muß nichts mit dem Menschen und seiner Erfahrung zu tun haben. Schon das Allgemeinwissen also führte in die Sackgasse der Fraktalität. - Die geradezu olympiadische Disziplin der Rateshows zeigt beispielhaft, daß unzusammenhängendes, fraktales Allgemeinwissen, fraktal abgefragt und mit Punktgewinn belohnt, nichts will. Das mediale Bildungsgemetzel dokumentiert weniger Sinn denn Speicherbarkeit (Merkbarkeit). 

Den Wandel von komplexer hin zu struktureller Einordnung setzt heute die Computerisierung fort. "Während die Welt ... komplex und verwirrend [ist], überwältigend vielfältig und in immerwährendem Fluß, behaupten die Rechner in all dem eine Insel der Ordnung zu sein" (Winkler 1997, 223). Das künstliche Schaffen von Ordnung geht mit Simplifizierung einher. Die informationstechnologische Revolution läßt Informationen nicht als Erfahrungskomplexität auf die Menschheit los, sondern als Abruffunktion. Als Hypertext werden Informationen multimedial mit anderen Informationen kombinierbar. Hypertexte fordern Orientierung nicht in Sinnkomplexität, sondern in Organisationsstrukturen: die Strukturrezeption dominiert die Sinnrezeption. Wenn aber "nur noch Informationsmedien einen Zusammenhang von Erfahrungen bilden, dann sind sie ... von ihrer internen ... Logik nicht mehr zu unterscheiden" (Reck 1994, 88). Weniger die Information selbst, sondern die Organisation des Abrufens und Kombinierens steht dann im Zentrum des Rezeption. Der Wert von Informationen über Informationen ist dann größer als der Wert der Information selbst. Die Informationsinformationen und die Strukturlagerung werden zur primären Rezeptionsbedingung und der Sinn gerät unter die Räder seiner Organisiertheit. Nicht die Schrift also, sondern die strukturbefangene Rezeptionsweise bewirkt eine nicht-komplexe ´Entbilderung´.

Hartmut von Hentig betont, daß ´die im Computer angelegten Strukturen auf die Benutzer zurückwirken´: "Das Bedenklichste, was uns der Computer antut, ist ... die Vorstellung, die wir uns unter seinem Einfluß von ´Wissen´ machen. Es wird daraus endgültig eine beliebig anhäufbare Sache. Darum auch kann man ´Wissen´ mit ´Information´ gleichsetzen - und es quantifizieren" (vgl. 1993). Das Wissen habe die Erfahrung und die Tatsache, daß etwas verstanden werden müßte, hinter sich gelassen. "Wissen ... hat fortan nichts mehr mit Qualität zu tun ... Das Computerwissen ... wird darum die Neigung des Menschen, aus dem Denken ins Wissen zu fliehen, gewaltig steigern" (ebd.). Das Wissen gibt als Information den Anschluß ans komplexe Denken auf .[10]

Im historischen Bildungssinn hat das Wissen einen schweren Stand. Die nicht-komplexe Strukturalität der Digitalspeicherung und -vermittlung schlägt sich nieder als erfahrungsjenseitige Versachlichung. Ihr ist Wahrnehmung Input, Entscheidung Reflex, Erinnerung Time Code und Geschichte Schnittfolge. "Seitdem sich die ´Bilder´ als das Sinnliche ausgeben", so Kamper, "fällt der harte Kern der Dinge aus" (1990, 32f). Er wird zum fraktalen fact seiner selbst, und die niedrigkomplexe Sinneswahrnehmung glaubt die Erfahrung des Gehens im Sitzen tun zu können. Wer aber derart davon ausgeht, die Weisheit nun mühelos mit dem digitalen Löffel fressen zu können, ohne den Sinnesapparat auf Komplexität zu stellen, dürfte komplex-los vor dem Modem enden und sich dann womöglich fragen, weshalb er informiert sein soll, wo er doch Erfahren haben wollte. Das Wissen zur Erfahrung zurückzubiegen, sind die Informationen alleine nicht dienlich. So erkennt Flusser als der Weisheit des Wissens letzter Schluß denn auch zynisch, "das Wissen ist ein absurdes Wissen ... Auf alles Wissen ... müssen wir verzichten. Das ist es, was wir wissen" (Flusser 1990b, 81f).

 



[1] ´Als im 18. Jahrhundert Enzyklopädien erstellt wurden, war die Gesamtheit des Wissens noch weitgehend beherrschbar. Das Wissen war noch totalisierbar. Dieses Projekt muß heute aufgegeben werden´ (vgl. Lévy 1996, 8).

[2]In die Bibliothek und Speicher können Informationen endlos gestapelt werden  - man kann oder könnte sich ja später alles genauer zu Gemüte führen. Das Seiende wird möglichst schnell als Geschichte abgehakt, weil ja so viel Neues wartet. Damit aber wird es immer schwieriger, sich am Vergangenen zu messen. Es besteht die Gefahr des Orientierungsverlusts, wonach dem Menschen die Gewißheit verloren zu gehen droht, daß es ´eine über ihn hinausreichende Welt gibt´ (vgl. Baudrillard 1989, 113).

[3]Die Kompliziertheit wissenschaftlicher Texte darf nicht mit Komplexität verwechselt werden, denn Kompliziertheit ist entschlüsselbar, Komplexität dagegen birgt immer ´Reste´, die den Erklärungsbemühungen entgehen.

[4]Die analogen Medien vermitteln ebenfalls ´kilometerdick´ Informationsfluten, zeigen aber nicht komplex die Vielfalt der Anschauungen eines Themas - mit dem Anspruch, seiner Komplexität nahezukommen -, sondern die Vielfalt  - beziehungsweise die ´Einfalt´ - vieler Themen möglichst gleichzeitig.

[5]"Information setzt ... Struktur voraus, ist aber selbst keine Struktur, sondern nur das Ereignis, das den Strukturgebrauch aktualisiert" (Luhmann 1988, 102). Informationen seien auf Kategorisierung angewiesen, die die Kommunikation vorstrukturieren (vgl. ders. 1996, 38). Dank der Struktur also wird Information lebensweltlich eingeordnet und verarbeitet, doch ist Struktur nicht identisch mit dem Sinn, denn sie transportiert. Ein ´Versagen der Einordnung´ korrespondiert für Luhmann mit ´Sinnlosigkeit´ (vgl. 1988, 109). Sie setzt beispielsweise dann ein, wenn der Sinn fraktalisiert.

[6]Erinnerte Konstruktion konnotiert das Erinnerte als Transformationsbewegung: "Das Erinnerte ... wird für ein bestimmtes Präsentisches als Eröffnung von Zukunft in der Gegenwart selbst konstruiert" (Reck 1994, 85). Das Digitalvermittelte aber ist ´gerade nicht Ausdruck des Präsentischen´, sondern bestätigt über die ´Elimination von Alternativen´ die ´Kontinuität des Alten´ (vgl. ebd. 89)

[7]Edeltraut Bülow legt denn auch nahe, dem in der Europäischen Menschenrechtskonventioen festgelegten Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit und dem Recht auf Muttersprache das ´Recht auf natürliche Kommunikation´ hinzuzufügen (1994, 565).

[8] "Information ist eine Aktion, die Zeit beansprucht", so John Perry Barlow. Sie ist "kein Zustand, der physikalischen Raum beansprucht wie Waren. Information ist der Schlag, nicht der Ball, der Tanz, nicht der Tänzer" (1995, 89). Information also ist größer als das rein Informelle der Vermittlung, denn Information kann im lebensweltlichen Selbstständnis damit rechnen, in ein bereits vorhandenes Sinnvolumen eingebettet zu werden.  - Doch schon die Praxis wissenschaftlicher Theorien räumt die lebensweltliche ´Lebendigkeit´ und die unmittelbare Erfahrung aus. Kamper kritisiert, daß Theorie kaum an der Erfahrung scheitern könne (vgl. 1990, 249). Die Erfahrung - ´der Schlag, nicht der Ball, der Tanz, nicht der Tänzer´ - ist kein legitimes Kriterium, Theorien zu kritisieren, da sie nicht in der theorietauglichen Logik zu fassen und - wie Gott - nicht meßbar ist.

[9] "Die Ohren des Volkes sind mit Bildung vollgestopft", urteilt Bolz (1990, 12) - "was man bisher Bildung genannt hat, war ein Narkotikum" (ebd. 26). Die Tatsache, daß sich das Wissen vom Menschen abkoppelte und jenseits seiner unmittelbaren Erfahrung ein fraktales Dasein fristet, legt die Vermutung nahe, daß auch Werte (die zehn Gebote), die in Bibliotheken festgehalten sind, an lebenswelticher Relevanz verlieren. Werte (und ein unmittelbar allumfassendes Weltbild) kamen ins Straucheln, als die Bücher abgelegt wurden, als die Bibliothek Bibliothek wurde: Die Verbindung zwischen Information und Lebenswelt wurde nach und nach gekappt. "Information ist heute eine Ware, die man kaufen und verkaufen kann ... wie ein Kleidungsstück ... Die Information ist zu einer Art Abfall geworden. Sie trifft uns wahllos, richtet sich an niemand Bestimmten und hat sich von jeglicher Nützlichkeit gelöst ... weil wir kein zureichendes Bewußtsein davon entwickeln, was sinnvoll und bedeutsam ist" (Postman 1992b, 62). Das Wissen hat sich von der lebensweltlichen Unmittelbarkeit gelöst. 

[10]Heinz von Foerster sieht das Erziehungsbemühen daringehend gerichtet, "unsere Kinder zu trivialisieren". Wie ´in einer nicht-trivialen Maschine (Turingmaschine) der Output durch den Input und den internen Zustand der Maschine bestimmt wird´ intendiere das Erziehungssystem, ´all jene ärgerlichen inneren Zustände ausschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen´. Es lehre nicht, komplexe Fragen zu stellen (vgl. 1993, 170f). Doch europäische Kultusminister haben mittlerweise erkannt, daß es ´nicht länger möglich oder wünschbar sein wird, enzyklopisches Wissen zu vermitteln". Der Bildungsschwerpunkt müsse sich vielmehr zur Fähigkeit hin verlagern, ´Informationen auszuwählen´ (vgl. Degler 1993, 102): Der Strukturlogik scheint eine - auf neue Weise -  wissenstranszendierende Rolle zuzufallen.

 

 

 

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