3. Wahrnehmung ultra

 

Der ´Sprung aus dem Gewöhnlichen ins Ungewöhnliche´ freilich will gelernt sein (vgl. Flusser 1990b, 105). Es kann nicht genügen, die Apparate zu verbessern, vielmehr hat sich die Wahrnehmung selbst dem Geschick der Apparate zu stellen, um in deren Perfektion mithalten zu können. Werden im multimedialen Generalangriff die Sinne okkupiert, so haben die Sinne sinnlich zum Gegenschlag auszuholen. "Wer ... kein Scheuklappen-Denken akzeptiert, muß für eine Erweiterung der Wahrnehmung plädieren, solange es noch geht" (Kamper 1986, 53). Verstreicht die dead line, verbleibt der Nutzer auf Niedrigkomplexitätsniveau, ohne dies Dilemma reflektieren zu können. Da ein an altvertrauten Wahrnehmungsbedingungen hängender Rezipient den neuen Bildern zu träge ist, kollidiert eine Erweiterung der Wahrnehmung mit liebgewonnenen Gewohnheiten: "Das normale Bewußtsein ist ... eine Abwehrmaschine ... Innerhalb der Mauern herrscht Angst und draußen vermutet man Chaos" (Kamper ebd.). Das nach Wahrheit und Wissen suchende Ego ist darauf bedacht, in der heilen Welt des Üblichen seinen (post-)modernen Restglauben zu retten. Derart auf geschichtliche Chronologie und Weltabbildung hin konditioniert, aber ist der Bilderoberer im digitalen Posthistoire falsch gerüstet.

Die digitale Variante der Welt verlangt der Wahrnehmung eine Herangehensweise ab, die  nicht der bislang gültigen Option verfällt, die Bilder auf der gleichen Wirklichkeitsebene wie ihre Bedeutung vermuten zu können (vgl. Flusser 1992b, 13f). Der Betrachter, der davon ausgeht, Komputationen hätten Verwandtschaft zum ´Blick in die Welt´, irrt. Diese Annahme ´führt den Betrachter dazu, die Bilder nicht als Bilder, sondern als Fenster anzusehen. Er traut ihnen wie seinen eigenen Augen. Und folglich kritisiert er sie auch nicht als Bilder, sondern als Weltanschauungen´ (vgl. ebd. 14). Die Bilder aber sind ´nur´ Bilder, sie bieten weder einen Blick ´hinaus´ noch einen Blick in ihre Machart. Sie sind ihr eigenes Universum, selbst wenn sie als abbildkompatibel daherkommen. Noch ehe also die Bilder betrachtet werden können, ist das ´normale´, auf ´real´ und ´nichtreal´ geeichte Bewußtsein neu zu schärfen. Eine ´einfache´ Wahrnehmung kann nichts wahrnehmen. Sie ist dem Fußgänger vergleichbar, der ein Auto einzuholen versucht.

Die wahrnehmungssteigernde Strategie ist nicht als Zeitvertreib zu üben, denn die Lage ist ernst. Zum einen bedarf es des wahrnehmungstaktisch komplexen Ankers, um hinter der Bilderflut die (kriegerischen) Strukturen zu entlarven, die die Sinne verstopfen. Zum anderen ist die Eigenkomplexität des Wahrnehmenden anzukurbeln, um in den Fluten nicht verloren zu gehen. Die Wahrnehmung hat das Simulatorische der Apparate selbst zu simulieren und die Strukturen der Hypertexte als Sinnestaktik zu adaptieren - und nicht über Interfaceanschluß nur zu konsumieren. Eine ´einfache Wahrnehmung´ unterwirft sich den apparatischen Informierungszwängen: "Einzig ´entrüstete Ordnungen´ wären in der Lage, den neuen ´faulen Zauber´ einer Vernichtung von allem, was ist, zu entgehen" (Kamper 1986, 164) - der Vernichtung durch Totalkommunikation. ´Entrüsteten Blickes´ übertrumpft die Wahrnehmung noch das Denken.

´Entrüstete Ordnungen´ nähren sich paradoxal und ´zerstreut´ aus dem Immateriellen, das komputiert den Bildern entsteigt. Das ´Opfer der Wahrnehmung´ begegnet dem Wahrnehmbaren in entstellter Form. Ein dem Paradox folgendes ´Denken des Immaterellen´ (vgl. Kamper 1991, 99) ist gebunden an die menschlich unfaßbare und uneinlösbare Komplexität. Die Strukturbedingungen der Apparate zu überbieten, hat die Wahrnehmung die Mutprobe der Orientierungslosigkeit zu bestehen: die Fraktale der Bildschirme verdichten sich dann wahrnehmungsästhetisch zu so etwas wie Poesie. Sie wohnt nicht schon dem Bildern inne, sondern wird erst durch die Wahrnehmung aktiviert. War bei Texten ein Lesen ´zwischen den Zeilen´ möglich und seitens poetischer Texte wichtig, so ist nun ein ´Sehen zwischen den Bildfraktalen´ als neue Art der Poesie zwingend. Da in den elektronischen Werken weder Schein noch Sein, weder wahr noch falsch unterschieden werden können, sind der poetische Blick und das paradoxal Nichtidentische der zwingende Horizont des Blicks. 

Erst auf der wahrnehmungstaktischen Überholspur wird die bereits im Fernsehzeitalter brüchig gewordene Ansicht verabschiedet, die Bilder wollten mehr zeigen als sich selbst. Sie sind nur Fraktale ihrer Funktionalität. Das Sehenswerte sind weder die Inhalte noch die Bilder selbst, ja nicht einmal das ´Medium als Botschaft´. Vielmehr gilt es transzendenten Prozessen nachzustellen, die den Bildern nicht abzulesen sind, die sich dennoch in ihnen verbergen. Sie lassen sich nur einlösen durch einen Betrachter, der das Komplexe in der Kommunikation mit dem Bild entzündet. Nicht rational wollen die Bilder ´entziffert´ werden, denn das Rationale endet in der endlosen Schleife des Weiterkomputierens. Schon das Wissen-Wollen steht unter Entropieverdacht. Erst die den Bildern innewohnende ´topologische Unschärfe´ (vgl. Kamper 1986, 111), die Baudrillard als eine Sackgasse der Wahrnehmung interpretiert (vgl. 1992, 51), kann seitens des Wahrnehmenden die Basis sein, den Fraktalzuständen der Bilder Herr zu werden. Die Wahrnehmung selbst hat sich in Fraktalität zu üben. Da die Bilder fraktal flackern, muß der Betrachter gewissermaßen blinzeln.

Er hat der Tatsache entgegenzukommen, daß die Bilder Hörigkeit erzwingen, da sie als Wahrnehmungsoffensive die Sinne angreifen, die komplexe, körperliche Datenverarbeitung aber übergehen: Der "Blackout von individuellem Autismus und gesellschaftlicher Automation", so Kamper, sei nur überwindbar durch die ´Akzeptanz der Fiktionalisierung der Welt´ (vgl. 1991, 99). Der Schein also scheint nicht zu trügen, sondern zu tragen. Wenn die ´antimediale Bewegung´ laut Agentur Bilwet ´mit der Frage kämpft, wie sie die Medien ins Spiel bringen kann, ohne selbst Teil von ihnen zu werden´ (1993, 35), so durchbricht der medienresistente Betrachter die Bildhörigkeit, indem er das Blickabenteuer zwar auf sich nimmt und sich daran bereichert, durch selbstbewußte Eigenkomplexität aber nicht den Bildern verfällt, sondern dem Schein seiner eigenen Welt treu bleibt. Da die Komputationen Fiktionalisierungen sind, hat der Betrachter die Fiktionalisierung als Wahrnehmungsoption zu wählen und übertreibend zu transzendieren, noch ehe das Fiktive in Hörigkeit umschlägt. Dabei will er nicht die ´Welt hinter den Bildern´ entdecken, sondern sich selbst in den Bildern verwirklichen. Er komputiert das Wahrgenommene seitens der Eigenwahrnehmung selbst und steigert sich in einen fiktionalen Zustand, der die Bildfiktion übertrifft und die ´Reste´ der eigenen geistigen Sinnesverarbeitung wach hält.

Während Baudrillard den Betrachter - negativ - einem "imaginären Koma ... verfallen" sieht (1989, 121) und befürchtet, "diese Generationen werden vielleicht nie mehr aufwachen, doch sie wissen es nicht" (1990b, 24f), ortet Flusser in den Bildern - positiv - eine "Freiheit, wie sie Drogen vermitteln" (1990, 118). Die Freiheit freilich will emanzipiert sein über die abhängig machende ´Freiheit´ der Bilderdrogen: Die Bilder sind tranceartig zu verdichten und poetisch zu durchschauen. Den digitalen Bildertraumata kann nur folgen, wer die Wahrnehmung zwischen Traum und Trauma inszeniert: "Der künftige, auf seiner Tastatur spielende Mensch wird vom Rausch ... ergriffen werden", er wird zu ´Selbstvergessenheit mitgerissen´ (vgl. Flusser ebd. 88). Die Frage nur ist, ob er die ´Selbstvergessenheit´ in Gegenwärtigkeit umzubiegen weiß und noch Herr seiner Wahrnehmung bleibt oder ob er sich von den Bildern dämonisieren läßt. Das Gegengift der Bildvereinnahmung ist die ekstaseartige Wahrnehmungsintensivierung. Diese Geistesanstrengung bezüglich der ´psychedelisch wirkenden Bilder´ (vgl. ebd. 118) fährt sinnliche Hormonschübe wider die Bildvereinnahmung auf. Nach einer Dosis Videokunst, nach ein paar Stunden Videospiel oder Komputationsanstrengung wird erst derjenige geläutert in die nächste Runde gehen, der die Selbstvergessenheit noch im Wahrnehmungsspiel wahrnimmt. Das Auge wird zum Aktionszentrum des Denkens.

Die menschliche Einbildungskraft, die - komplex - größer ist als sie wissen kann, benutzt die Bildschirme, nutzt sie aus, um ihrer eigenen Komplexität gerecht zu werden. Das gesamte ´Universum der technischen Bilder´ ist auszubeuten, um - jenseits der Verstehbarkeit - ´dahinter´ die eigene Komplexität einzulösen. Die komplexe Wahrnehmung aktiviert den ´Rest´, der apparatisch nicht kalkulierbar ist: Lachen, Entsetzen, Ironie etc. machen als subversive Selbstinszenierung den Körper zum Wahrnehmungsprojekt. ´Dichten als Denken´ ist eine Wahrnehmungsstrategie, die die apparatischen Wahrnehmungsbedingungen übersteigt (vgl. Schönherr-Mann 1993, 178f). All das angesichts der informationstechnologischen Übermacht unterdrückte typisch Humane - Poesie, Zynismus, Gefühl, etc - kann zur Geltung kommen. Dichtung und Ironie vermögen das Sehen sichtbar zu machen, da sie - komplex - die Wahrnehmung auf sich selbst verweisen. Erst diese körpernahe Verdichtung der Wahrnehmung läßt die maschinelle Kalkulierbarkeit übertreffen. Kamper sieht die Chance "einer von ihren Träumen enttäuschten Menschheit, die nun mit dem einzigen konfrontiert ist, das ihr überhaupt nicht paßt: eine radikal menschliche Welt" (1991, 98). [1] - Dank komplexer Wahrnehmung fällt der Mensch auf sich selbst zurück.

Diese Strategie ist weder Reduktion (denn das Verdichtete bliebe niedrigkomplex) noch lineare Verstehbarkeit (die das Komplexe ebenfalls ´wegerklären´ würde). Komplexitätsreduktion sei ein Fehler, so Kamper, "denn ein Denken, das einfacher macht, macht alles noch schwieriger. Ich versuche, das umzudrehen, und sage: Je komplexer das Denken, desto einsichtiger, je schwieriger das Denken, desto genauer" (1993b, 74). Komplexes Denken freilich ist gebunden an einen komplexen Blick. Erst der intensive Blick durchbricht die entropische Simplifizierung und die Tatsache, daß die Komplexität in den Zeiten der Entropie der Tendenz unterliegt, sich in Vereinfachung und optischen Entitäten aufzulösen. Wider den trägen Blick löst die Komplexität die Fähigkeit der Erfahrung ein und hebt die Sinneskompetenz in einen emergenten Zustand. Orientiert sich der Beobachter selbstbeobachtend an seiner eigenen Komplexität, erzeugt er ´neuartige, nicht mitvorgesehene Reaktionsmöglichkeiten´, er produziert ´mehr als nur sich selbst´ und wird ´hyperkomplex´ (vgl. Luhmann 1988, 637). Er öffnet sich dem Paradox und vermag seitens der Wahrnehmung Unwahrscheinlichkeiten zu aktivieren: "Erst der Überstieg in labyrinthische, d.h. hyperkomplexe Strukturen würde die Offenheit bringen, die längst fällig ist" (Kamper 1986, 16).

Einer komplexen, nachgeschichtlichen Haltung ist das ´Wissen des Digitals´ äußerst unbefriedigend, denn dem Komplexen sind die reinen Informationen irrelevant und banal. Ohnehin ist die Welt bekannt und dank der Prothesen und Informationsapparate zugänglich: dennoch machten sie die Welt - paradox genug - fremd, da sie zwar informieren, die Informationen aber nicht erfahren lassen. Das nachgeschichtliche Wahrnehmen aber erkennt, daß das Digital (wieder) unbekannt ist, daß die multimedialen Disketten sinnlos sind: daß sie ´leer´ sind, solange sie der Blickintensivierung nicht genügen. Das Digital wird zum ´fremden Land´, das erst geschickte Blicke erobern und ´bevölkern´ können.[2] Verweigert sich der Wahrnehmende einer komplexen Herangehensweise ans Digital, entropisiert seine Sinneskompetenz und er vegetiert weiterhin ´glücklich´, aber inkompetent im Kitsch. Wenn es aber darum geht, "nicht den Weg in die Desillusionierung zu beschleunigen, sondern den Aufwand zu vermindern, den es kostet, das neue Medium zu lesen" (Winkler 1997, 217), so bedeutet die ´Verminderung des Aufwands´ die der Komplexitätssteigerung folgende Gelassenheit einer souveränen Wahrnehmung.

´Reines´ Wissen und versachlichte Information bremsen das komplexe Denken und Wahrnehmen. Nicht das Verstehen ist der Kamm, über den die Bilder zu scheren sind, denn das linear gültige "´Paradox des todbringenden Verstehens´, todbringend auch für den, der versteht" (Kamper 1986, 42), mündet als Sehnsucht nach Allwissenheit über die Explosion des Wissens in die Implosion des Sagbaren. Dieses auf fatale Weise realisierte Paradox der Aufklärung ist folglich durch ein noch größeres Paradox zu ersetzen: "Nie rechtbehalten zu wollen; zu wissen, daß es nur fremde Gedanken gibt; sich im Denken auszusetzen, auch ohne das Ende zu wissen; selbst solche Probleme, die den, der denkt, zu vernichten drohen, nicht auszulassen; mit einem Wort: gegen das Denken zu denken" (Kamper ebd.). Der bislang ´einäugig´ Wahrnehmende wird zum ´Revolutionär des Sehens´ erst durch "ein Verstehen ... das sich notfalls selbst durchstreicht" (ebd.). Dann ist Verstehen mehr als Meinung und mehr als rational Sagbares: "Man muß Probleme aufsuchen, die ein Scheitern nach sich ziehen können, denen man nicht gewachsen ist. Nur dann ist man ihnen gewachsen ... Deshalb ist das Ziel nicht mehr der Minimalkonsens, sondern der Dissens als Dissens" (ebd. 55). Erst nach dem ´Scheitern des Denkens, nach dem Absturz des Beobachters´ sei eine Vernuft möglich, die vernimmt (vgl. ders. 1993, 66). Erwin Reiss hält in diesem Sinn die ´Erblindung für ein wünschenswertes Geschick, um aufs neue unsere Augen entdecken zu können´ (vgl. 1995, 94). Eine gescheiterte Vernunft und eine Überanstrengung der Sinne geht gegen die ´einfache´ Wahrnehmung vor.

Die Bildschirme flackern weiter, das Wissen wächst weiter, doch gilt es nicht, sich deren Strukturtotalität anzupassen, sie zu adaptieren. Kamper will "für eine Zeit nach dem Sturz der Bilder und nach dem Zusammenbruch der Begriffe gerüstet sein, und zwar durch die Wiederholung (sprich: Wieder-Holung) einer ... Einbildungskraft, die es im Bildlosen, Begriffslosen aushält" (1990, 208). Eine Wahrnehmung nach dem ´Absturz des Beobachters´ ignoriert die Bilder, um - ´frei´ für deren Ontologie - das Ego zu befreien. Sie ignoriert erst recht die Gelehrigkeit der Schrift, um sich vom Ballast des Wissens zu befreien. Das strukturlose Imaginäre hinter dem Flackern, im Rauschen, vielmehr ist die Essenz, der die Wahrnehmung in Selbstbeobachtung folgt. Das Rauschen ist das ´ferne Land´ der Komplexität selbst. Es ist so groß und unbekannt wie die menschliche Sinnesverarbeitung. Alles konkrete: Sinn und Wissen sind ihm redundant. Die ´fremden Gedanken´, die die Logik des ´einfachen´ Denkens brechen und den Apparaten kaum zu vermitteln sind, sind wahrnehmungstaktische Waffen wider die Blickvereinnahmung. Mit fremden Gedanken, Unwahrscheinlichkeiten und Widersprüchen bleibt das Denken, wo es hingehört: im Menschen selbst, im paradox Komplexen.

Die Orientierung hat Orientierungslosigkeit zur Voraussetzung, denn dem flinken Blick ist die Fülle des Bilderrauschens gleichbedeutend mit ihrer - meditativen - Leere. Die ´bindende Grundorientierung´ scheint vonnöten, "sich ohne den sicheren Hort irgendeiner Weltanschauung im Medium schier vollendeter Reflexionslosigkeit reflektierend Rechenschaft zu geben über das, was geschieht" (Kamper 1986, 27f). Bodenlosigkeit ist angesichts eines Mediums, das keinen Boden hat, die einzig legitime Strategie, sich der reinen Wahrnehmung zu konfrontieren. Ohne festen Halt und vom Widerspruch angestachelt, erst nehmen die Sinne wahr, was die Bilder ´im Innersten zusammenhält´, was sie transzendent bedeuten. Im Vakuum reiner Körperlichkeit nehmen die Sinne die Bilder wahr, als hätten sie nie welche gesehen. Der ´unschuldige Blick´ hat, um die Bilderfluten zu bestehen, gewissermaßen den Zustand vor der Bilderflut zu simulieren - "was ein Denken erforderlich macht, das vor den Mythos zurück- und über die Moderne hinausgeht" (Kamper 1986, 55). Dabei soll weder dem vorschriftlichen Mythos, noch der überfallartigen Attacke der Bilderflut verfallen werden. Die Einbildungskraft reflektiert sich vielmehr im Imaginären des Bildlosen, das mit der Bildfülle identisch ist.

Wer über die festgefahrene Moderne hinausgelangen wolle, dürfe nicht einfach eine andere Geschichte erzählen, so Kamper weiter. "Nur wenn die imaginäre Obsession der Geschichte: der geschlossene Raum der einen Geschichte ... verlassen werden kann, gibt es noch Zukunft" (ebd. 66). Die Apparate haben die ´eine Geschichte´ ohnehin virtuos gesprengt und sie im Urknall der Informationen ins eine Universum der Bilder und Netze katapultiert. Die Wahrnehmung aber hat nicht einfach der Explosion zu folgen und informatorische Raumsonden auszusenden, um die Informationstrümmer wieder zum Puzzle zu fügen. Sie hat die Explosion vielmehr wahrnehmungstaktisch durch eine ´körpernahe Einbildungskraft´ (vgl. ebd.) selbst zu vollziehen, um zu erspüren, daß die negentropische Expansion des Info-Universums die Entropiefalle der Datenverarbeitung ist, der erst die menschliche Wahrnehmungssouveränität Einhalt gebietet.

Geschichtslose Nachgeschichte ist dann der zeitenthobene Ausgangspunkt, die Apparate, die die Geschichte pervertierend verarbeiten, paradoxal zu übertrumpfen. Da apparatisch Zeit Struktur ist, ist nachgeschichtlich einer Chronolgie nicht mehr zu folgen. Geschichte ist apparatisch immer ein Jetzt des Abrufens. Der Zirkulation der Informationen ist deshalb nurmehr simulatorisch in Eigenzeit zu folgen, um mittels der Einbildungskraft ´reflektionslos reflektierend´ ´hinter´ die Zirkulation der Imagination zu gelangen und sie im freien Fall der Wahrnehmung zu überdauern. 

Die Zeitlosigkeit der zirkulierenden Bilder korrespondiert dann mit der ´entrüsteten Ordnung´ des Blicks. Sie führt aus der entropischen Langeweile heraus, die sich endlos verlängert, solange sie ihres Zeitzwangs nicht enthoben wird. Vorgeblich besetzen die Bilder den Raum und die virtuellen Räume, der komplex Wahrnehmende aber erkennt, daß sie die Zeit besetzen: Sie blockieren den Fluß der Zeit und stoppen die Eigenzeit des Betrachters, indem sie ihn zwingen, Zeit mit Zuschauen zu verschwenden. Nachdem der ´Historizismus´ in der Digitalvariante ´auch die Zukunft an sich gerissen hat, ist der Kreis der Geschichtlichkeit zeitlos geschlossen´ (vgl. Sloterdijk 1989, 164). Der komplex Wahrnehmende aber entlarvt die Zeitlosigkeit und ersetzt sie nachgeschichtlich körpernah durch Eigenzeit. Kamper "scheint ... die Moderne ... festgefahren an der Stelle, wo es nur noch um Modifikation von Raumkompetenzen geht. Da wo die Zeitsensibilität jetzt einsetzt, da wäre die Moderne nach vorwärts zu verlassen" (1993b, 81). Dabei würden "andere Sinne gelten als das Auge" (ebd.), das versucht, der Linearität der Geschichte hinterherzukommen: "Im Hinhören auf die Zeit wäre ein Punkt eingenommen, wo man sich bewußt in der Zeit bewegt. Das wäre der Inbegriff dessen, was Geistesgegenwart sein kann" (ebd.).

"Radikale Diesseitigkeit", die ´alle Kategorien hinter sich läßt´ (vgl. Kamper 1986, 69), ist das Pendant zur Nachgeschichte. Sie überholt die Linearität der Logik und die Chronologie der Zeit. In dieser Geistesgegenwart flackert Geschichte nurmehr als ein Rauschen und als ein Möglichkeitsfeld ihrer Interpretation, die individuell gesetzt (komputiert) werden können. In poetischer Verdichtung ist jede Auslegung als individuelles Gedicht möglich. Geschichte und Gegenwart sind interpretationsoffen und übertreffen die geschlossene Veranstaltung einer 15-Minuten-Tagesschau-Terrine oder eines konkret komputierten Bildes - von denen sich das kombinatorische Bewußtsein nichtsdestotrotz nährt.

Hinter die - der Explosion des Wissens folgende - Implosion des Sinns zu blicken ist ein Schritt, die Zeitlosigkeit der Zirkulation einzuholen und durch Eigenengagement zu überhöhen. Im sinnüberfüllten wie sinnentleerten Moment der Zeitlosigkeit herrscht die ´Stille´ des Rauschens, eine ´Stille´ des Sinns und der Zeit - eine Stille, die dem Vormythischen oder der Stille im Zentrum eines Orkans gleichkommt. Darin ist man sich selbst und seiner Einbildungskraft überlassen: Es geht, wie Flusser sagt, darum, "die Einsamkeit in der Masse durch echte Einsamkeit zu ersetzen, durch eine Einsamkeit, in der die konkrete Wirklichkeit, jenseits der kodifizieren Welt, erlebt wird, die Einsamkeit des Privaten ... in der die Propheten Gott ansichtig wurden" (1990b, 170).

Da der Zeitgau der Bilder kaum Zeit läßt, die Bilder ´in der Zeit´ zu imaginieren, ist die eigene, chronologiebehaftete Weltanbindung zu kappen und das vordem Rationale ins Mythische und Instinktive zu schwenken. Eine derart körpernahe und nachgeschichtliche Entdeckung der Wahrnehmung entwertet das Denken nicht, sondern bewirkt erst eine Entdeckung auch des Denkens. Eines Denkens aber, das sich vom Nicht-Denken und vom Nicht-Wissen nährt. Statt Erkenntnisse will es eine Erfahrung, die Worte und Fakten übertrifft. Dies Denken kristallisiert sich durch eine Art musikalischer Wahrnehmung, die weniger dem Inhalt einer Rede folgt denn deren ´Klang´. Ein musikalisches Gespür für die ´Wirklichkeit´ und deren Vermittlung ersieht im Sinne van Gogh´s die ´Bewegung´ hinter der gemalten Hand (vgl. Werkbund Archiv 1988, 84 - s.o.), sie durchschaut die zur Unkenntlichkeit verstümmelten Informationszusammenhänge intuitiv, sie transzendiert die Strukturen hinter den kollektiv erstellten Komputationssinfonien souverän und opfert sich nicht des apparatischen Schwerbehindertseins. Ein musikalisches Vermögen ist im Gefolge paradoxer Wahrnehmung ´übervernünftig´ und weder linear noch beschreibbar. Logik und Perspektive sind ihr nurmehr starre Parodien ihrer selbst.

Wenn in der Synergie zwischen Mensch und Cyberspace ein sinnliches Verhältnis des Digitals zum menschlichen Gehirn erstellt werden soll, so sollte ein wahrnehmungstaktischer Sinnesschub ohne technologischen Anschluß umso erstrebenswerter sein. Die Wahrnehmung ist dann nicht mehr nur an den Bildschirm delegiert, sondern zuvörderst emergent auf sich selbst gerichtet. Sie nutzt die Bildschirme für individualistische Projektionen - als selbstbeobachtendes ´Projekt´. Das Projekt erleidet das Wahrgenommene körperlich wie eine Verwundung. Es weiß, daß es durch die Digitalvermittlung musikalisch gedopt wurde und transzendiert diesen Zustand ins Körperliche. Der vordem unbeteiligte, rezeptionsabhängige Beobachter wird zum "mitfühlenden Beteiligten" (vgl. von Foerster 1989, 31). Von Foerster stellt die Wahrnehmung vor die Grundsatzentscheidung: "Bin ich vom Universum getrennt, (das heißt, ich sehe wie durch ein Guckloch auf das vor mir sich entfaltende Universum) oder bin ich ein Teil des Universums? (das heißt, wenn immer ich vom Universum spreche, spreche ich auch von mir) ... Es ist ganz erstaunlich, wie sehr sich das Weltbild ... verändert, wenn man die Guckkastenphilosophie des unbeteiligten Beschreibers mit der Einsicht des mitfühlenden Beteiligten vertauscht" (ebd. 30f). Erst der komplex auch noch die Wahrnehmung wahrnehmende Beobachter, der dem Weg folgt, den die Wahrnehmung geht, um wahrzunehmen, ist sowohl wahrnehmungskompetent als auch digitaltauglich. 

"Verlören wir das Sehen aus den Augen, verfielen wir dem reinen Blick" (Reiss 1995, 94). Er führte in die Falle der Bildhörigkeit. Bewirkte also einst die Perspektive eine ´Reflexion des Sehens´ (vgl. Weibel 1990, 178), so ist die heute anstehende Intensivierung der Wahrnehmung eine reflektierende Erweiterung des Sehens ins paradoxal und hyperkomplex Aperspektivische - und damit eine erneut emergente Reflexion des Sehens auf sich selbst. Die Informationstechnologien wirken in diesem Prozeß als ein Katalysator der Wahrnehmung. Er erzwingt den Sprung ins Nachgeschichtliche, den ´Quantensprung´ hin zur komplexeren Nutzung der Sinne.

Flusser zum Trotz ist dabei das Problem der Entropie irrelevant, da (wieder) vergessen werden darf und das Neue nicht heraufbeschworen werden muß. Erfahrung kristallisiert sich, indem die Informationen verarbeitet werden, danach aber vergessen werden dürfen. Vergessen heißt, das Extrakt des Erfahrenen verdaut zu haben. Die Kategorien Speichern beziehungsweise Vergessen sind überholt, wenn sich musikalischer Sinn über eine komplexe Selektion findet, die das Wissen übersteigt, von dem sie sich - nun imaginativ - nährt. Die erwünschte negative Entropie wird sinnestaktisch nicht nur erfüllt, sondern durch die negentropische Eigenkomplexität bei weitem überboten: Die Komplexitätssteigerung wirkt als ´Sprengung des entropischen Zwangs´ (vgl. Kamper 1990b, 141) und ist eine qualitative Umstrukturierung der Sinnesfähigkeit. Eine Wahrnehmung, der die Kategorien von ´alt´ und ´neu´, von ´wahrscheinlich´ und ´unwahrscheinlich´ so überholt sind wie die informationstechnologisch längst überholten Kategorien von ´wahr´ und ´falsch´, hat es nicht nötig, der Informationsproduktion zu verfallen. Informationen sind ihr pathologisierende Kriegswerkzeuge einer Medienkultur, die darauf abzielt, auf Bildhörigkeit abgerichtete Informationskonsumenten in den Warteschleifen des Immer Neuen auf den Jüngsten Tag ihrer Selbstwerdung zu vertrösten.

Kurzum: Die Steigerung der medialen Informationszirkulation durch wahrnehmungstaktischen Widerspruch zu übertrumpfen und akzeptiertes Nichtwissen als Sprungbrett in den Pool des Erfahrens zu nutzen, läßt die ´Existenz im Sinnlosen´ (vgl. Kamper 1986, 45) zur heilsamen Kur werden. Wenn schon jedes einzelne Bild eine Katastrophe seiner Informationen und ein ´horror vacui´ des Sinns jenseits des Bewußtseins ist, hat das Bewußtsein, um der Katastrophe gewappnet zu sein, den katastrophischen Zustand komplex zu steigern. Es hat die Katastrophe katastrophal und körpernah zu überbieten. Wollen Botschaften am eigenen Leib erarbeitet, erlebt und erlitten werden, wankt der Blick zwischen sinnestaktischer Alarmbereitschaft und Blackout. Verwirrung ist ihm gesünder als jede eindimensionale Klarheit. - Ohnehin muß sogar Wissen, um sich kontemplativ über fragendes Abwägen ´setzten´ und verdichten zu können, zunächst verunsichern.

Die Sinne wollen schwitzen, die Augen sich verdrehen, und in vorübergehender Ohnmacht will die offizielle Bildinformierungstotale seitens der Wahrnehmung übertroffen: Der Tritt gegen die Netzhaut gerät zur Therapie wider die Bilder, die ohnehin gegen die Sinne treten. Im Heilungsprozeß - sobald der Schmerz nachläßt - zeigt sich, daß zwischen Wahrnehmung und Bild, zwischen Schein und Sein und zwischen Marketing und Kabelanschluß nicht alles humankompatibel ist. Erst die ´Existenz im Sinnlosen´ bewirkt Klarheit darüber, daß die Medien Informierung inszenieren, während ´Denken´ etwas anderes ist als sie vorgeben zu fördern. Erst die tranceartige Selbstintensivierung der Sinne führt durch das Nadelör der Informationshörigkeit. Wer also Besinnung will, hat nicht die Entropie zu verlängern, sondern, paradox genug, den Weg durch die Besinnungslosigkeit zu nehmen. Der medialen Zirkulation zu entgehen, bedarf es, deren Taktik wahrnehmungstaktisch zu überbieten und dem Informationsgau magisch durch Eigengau zuvorzukommen.

 



[1]Allzu menschlich umreißt Kamper die Situation: "Angesichts der Zukunft ist jeder so allein wie im Mutterschoß ... Brauchbar auf die Dauer sind nicht so sehr die Theoriefähigkeit und die Kommunikationsfähigkeit, sondern eine Leidensfähigkeit der Intelligenz" (1993b, 83). Mehr noch: "Im Verzicht auf die Macht des Wissenwollens öffnet sich der Bildschirm der Angst" (1986, 149). "Man sollte die Möglichkeit erwägen, durch den Bildschirm der Angst hindurch den Ursprung der Menschheit anders zu beschreiben" (ebd. 66). - "Die Transformation ... besteht ... darin, die Augen zu entwaffnen und den ´Sinn´ für die Zeichen als Narben zu stärken ... dann müßte im gesamten Austausch der Menschen mit ihresgleichen und mit der Natur, in ihrem Umgang mit der Materie, eine Blöße auftauchen, die tiefe Rückschlüsse ermöglicht" (164f). Die ´Narben´ erinnern verzerrt an den Sinn, der nun imaginär transzendiert wird.

[2]Es gilt: "Von zartem Gemüt ist, wer seine Heimat süß findet, stark dagegen jener, dem jeder Boden Heimat ist, doch nur der ist vollkommen, dem die ganze Welt ein fremdes Land ist" (Tzvetan Todorov in: Kamper 1986, 41).

 

 

 

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