3. Das Entziffern der Bilder

 

Nachdem Sinn fraktalisierte und Vorstellbarkeit durch Darstellbarkeit ersetzt wurde, nachdem - bereits im Fernsehzeitalter - das Interesse an der Welt zugunsten des Bildes aufgegeben wurde, tauchen Sinn und Vorstellbarkeit im technischen Bild in hybrider, nicht authentischer, aber in sinnlich weit eindringlicherer Form wieder auf. Das Komputierte und Geraffte ist die Summe der Sinnfraktale auf einer weit intensiveren Informierungsebene als jener der herkömmlichen Bilder - der Ölgemälde, der analogen Fotografien oder der Fernsehbilder.

Die digitalen Produktionsverhältnisse aber lassen die Bilder weit schwerer wahrnehmen als deren analoge Vorgänger. Waren schon traditionelle Bilder äußerst vielschichtig, konnotativ extrem offen und forderten sie qua Abstand eine komplexe Imagination, so sind die technischen Bilder extrem informationsbeladen und zwingen dazu, durch taktile Nähe körperlich und in sinnestaktischer Gleichzeitigkeit geradezu erlitten zu werden. Die Bilder sind weder in Worte zu fassen noch zu imaginieren, denn ihr Sinn ist die unmittelbare Bildlichkeit selbst. Sie mag zwar Worten entsprungen sein, Worten, die, ´zerbrochen in tausend Fragmente´ als Bruchsammlung eingescannt und ins Bild hochgerechnet wurden. Doch während ich Texte linear in der Zeit, und traditionelle Bilder in Zeit und Raum imaginiere, liefern die technologischen Bilder die Imagination jenseits von Zeit und Raum unmittelbar freihaus und kappen die lineare Verarbeitung. Als die intensivste Form der Information sind die Bilder bereits das, was das Sehen erkennen soll. Sie nehmen den komplexen Akt der Rezeption vorweg.

Die Bilder entsteigen zwar den digitalen Codes weit konkreter - ja punktgenau - als in Büchern beschriebene Gestalten, gerade das Konkrete aber ist ihr Nachteil. Noch ehe der Blick ihnen nachstellt, zeigen sie sich bereits konkret. Ihnen genügt die reine Wahrnehmung - eine Wahrnehmung, die die komplexe Verarbeitung des Wahrgenommenen übertölpelt. Die digitalen Bilder sind extrem informationsreich (sie liefern ´kilometerdicke´ Quantität), die schriftlichern Codes dagegen sind extrem konnotationsreich (sie liefern imaginierbare Qualität). Bücher liefern Sinndichte, die es nur gibt, weil es den Menschen gibt, der schreibt beziehungsweise liest. Sogar Negroponte gesteht: "Interaktive Medien lassen der Phantasie kaum noch Spielraum. Wie bei einem Hollywoodfilm wird auch bei einer multimedialen Erzählung der Verlauf der Handlung so genau dargestellt und ausformuliert, daß dem geistigen Auge fast nichts mehr zu tun bleibt. Im Gegensatz dazu löst das geschriebene Wort Bilder aus und ruft Metaphern hervor, die ihre Bedeutung zum großen Teil aus der Phantasie und den Erfahrungen des Lesers erhalten. Wenn Sie einen Roman lesen, stammt  ein großer Teil der Farben, Geräusche und Bewegungen von Ihnen" (1995, 15).

Die Apparate dagegen kreieren zwar ´konkrete´ Fatamorganen, doch sind sie so flüchtig wie Träume, weil sie so konkret und sinnesnah daherkommen. Im Virtuellen verbleibt die Wahrnehmung auf der Ebene der Vermittlungsstruktur. Diese Eingeschränktheit kann auch wahrnehmungsstrategisch kaum durchbrochen werden, da der Anschluß in Echtzeit alle Sinnesorgane ´in Atem hält´. Gelesenes dagegen strengt zwar das Auge an, fordert aber das Gehirn auf, Vorstellungen (Bilder) zu entwerfen und vor dem geistigen Auge Gestalten zum Entspringen zu bringen. Wie sehr demgegenüber das Virtuelle die menschliche Verarbeitungskomplexität unterfordert, zeigt die Tatsache, daß man beispielsweise einem Hund die Erlebniswelten des Virtuellen zugänglich machen kann. Lesen dagegen kann er nicht.

Als Imaginationsersatz sind die Bilder ein Trommelfeuer auf die Sinne. Gesehen werden der Informationsfülle wegen nicht mehr Informationen, sondern Informationsballungen. Diese Ballung zu durchschauen, scheint im Gegensatz zu den analogen Bildern eine emergentere, informationsintensivere Wahrnehmung gefordert zu sein. Wider die Zeitnot des Betrachtens und wider den Frontalangriff der puren Sichtbarkeit, scheint das Komplexe in den Wahrnehmungsprozeß einziehen zu müssen, denn ein einfacher Blick kann nicht sehen, was er sehen soll. Er wird von den Bildern überrumpelt. Komplexität, die sich seitens der Schrift als Imagination entfaltet, scheint nun in die Bildentzifferung investiert werden zu müssen. Die Komplexität aber hat weder logisch noch seitens des Bewußtseins einzusetzen, sondern bezüglich der Wahrnehmung selbst. Die Geisteskraft hat die Sinne zu okkupieren, ohne ´Geist´ entfachen zu wollen, sie hat die Sinne bezüglich der Strukturalitäten ´sehend´ zu machen. Die Sinne sind als Röntgengeräte zu schärfen.

Nachgeschichtlich ist die Informierung eine magische Beschwörung durch das Bild. Der Komputator zaubert algorithmisch Bilder, die die Konsumenten magisch in Bann halten. Die Magie des Bildes wirkt als Sinnesverführung, die nicht den Umweg über Denkprozesse geht, sondern geradewegs ins Auge zielt. Sie ist die konsequente Steigerung von Rationalität und Objektivität, da das Gemessene, Erfaßte und Komputierte dicht gerafft und in komprimierter Form - als Effekt - wirkt. Sowenig aber magiegeprägte Kulturen frei von ihren Mythen leben können, sowenig ist auch der heutige Zeitgenosse frei von den Bildern, die seine Welt bedeuten. Da aber ein Ignorieren der Bildstrukturen die Bildontologie nicht freigibt, scheint ihnen nur ein intensiverer Blick gerecht zu werden. So wenig Mythen seitens der Rituale selbst verstanden werden können, sondern seitens ihres Entstehens, sowenig kann das techno-magische Weltbild im Bild selbst, sondern nur in seinem strukturbedingten Aufbau verstanden werden. Der Bild-Werdung, der Dynamik des Erscheinens der Bilder ist nachzuspüren. Erst ein Durchschauen der ´fließenden´ Transformationslogik der Bilder entlarvt deren magische Kraft.

Wenn ´der Mensch den Apparaten vorschreibt, was ihm die Apparate vorgeschrieben haben und damit in Funktion der Apparate funktioniert´ (vgl. Flusser 1990, 64), wenn also zunächst die Apparate programmiert werden, die Programme dann aber den Menschen programmieren, ist eben dieses Hörigkeitsverhältnis transparent zu machen: "Die Apparate funktionieren ... als Selbstzweck, eben ´automatisch´ ... Diese sture, absichtslose, funktionale Automatizität gilt es zum Gegenstand der Kritik zu machen" (ders. 1992b, 67). Es drohe ´Robotisierung´ (ders. vgl. 1992, 70), wenn man den Teufelskreis von Wahrnehmung und Hörigkeit ignoriere. [1] "Solange wir über eine ... Kritik [der Bilder] nicht verfügen, bleiben wir, was die technischen Bilder betrifft, Analphabeten" (ders. 1992b, 15). Da die Bilder Wahrnehmungsoffensiven sind, heißt Verstehen zunächst, die Bilder neu zu Sehen: apparatimmanent zu Sehen. Denn wir könnten das "Leben nur meistern, wenn wir die Spielregeln so gut beherrschen, daß wir sie ändern können" (1990b, 125). - Vor allem der Komputator will schließlich kompetent Bilder erzeugen. 

Auf den ersten Blick scheint es zwar, als müßten die Bilder "gar nicht entziffert werden, da sich ihre Bedeutung scheinbar automatisch auf ihrer Oberfläche abbildet - ähnlich Fingerabdrücken" (Flusser 1992b, 13). "Technische Bilder ... geben vor, daß man sie nicht erst entziffern müsse" (ders. 1990b, 117). Wie die Bilder aber auf den Bildschirm kommen, bleibt dann ihr Geheimnis. Diese "Kritiklosigkeit den technischen Bildern gegenüber muß sich als gefährlich herausstellen in einer Lage, wo die technischen Bilder daran sind, die Texte zu verdrängen" (ders. 1992b, 14). Noch ehe Kritik - und die Kompetenz, weiterzukomputieren - auf der Höhe der Zeit ist, ist also die Logik zu entlarven, die zum Bild geführt hat: Kritik ist durch eine Wahrnehmung einzulösen, die nicht den Inhalten, sondern den Strukturen folgt. Die Prozesse der Bildauflösung und das Zustandekommen der Bilder haben ins Zentrum des Interesses zu rücken. Es geht darum, "die technischen Bilder, die uns programmieren, zu entziffern. Dies kann nicht gelingen, wenn man auf dem historischen Bewußtseinsniveau verharrt, denn die technischen Bilder stehen ´dahinter´. Man muß versuchen, das nachgeschichtliche Bewußtseinsniveau zu erklimmen" (ders. 1990b, 118f).

Der nachgeschichtliche Blick fragt nicht, ob die Bilder wahr oder falsch sind, sondern ´wie das Programm, in dem sie entstanden, funktioniert´ (vgl. ebd. 125). Es gilt, ´die Struktur des Apparats aufzudecken - nur dann ist zu hoffen, die Apparate in den Griff zu bekommen´ (vgl. ebd. 119). Kann der Zeitungsleser, Radiohörer oder Fernsehzuschauer ideologisch gefärbte Einseitigkeiten und Absichten in der Vermittlungsprogrammatik erkennen, so hat der Digitalnutzer die Programmatik der Bildentstehung zu entschlüsseln. Dabei ist über den Output der Bilder und Erscheinungen die ´Black Box´ zu untersuchen. Die Intensivierung des Blickes will die zu Punktelementen zerfallenen und bildlich gerafften und komponierten Informationsverdichtungen in der Logik ihres Entstehens fassen. Ein derartiges ´Studium der gängigen Spielregeln´ nennt Kamper ein ´Rückwärtsbuchstabierern der Zauberformeln´ (vgl. 1986, 54).

Doch kann vom Bild aus Licht ins Dunkel der Black Box gebracht werden? Kann ich Einzelinformationen (Punktelemente) überhaupt ausmachen in all der Punktenge eines einzigen Bildes?[2] Um in den Bildern geraffte Unterschiede, Strukturen und Programme ausfindig zu machen, ist die gesamte Informationsladung danach abzusuchen. Der Entzifferer aber scheint etwas erkennen zu wollen, was er nicht erkennen kann, denn Programme und Strukturen zeigen sich nicht auf den Bildoberflächen, sie sind vielmehr in der Black Box verborgen. Das Bemühen des Entzifferns gleicht dem Versuch, in einem Ölgemälde noch den Pinsel des Malers sehen zu wollen.

So liegt es nahe, sich den Bildern über die Programmebene selbst anzunähern. Denn ´wenn ich technische Bilder einbilde´, so Flusser, ´bilde ich aus dem Innern des Apparats her´. "Die Einbildner stehen nicht über den Apparaten wie die Schreibmaschinenschreiber über den Maschinen, sondern sie stehen mitten in ihnen, sie sind mit ihnen und von ihnen verschlungen" (vgl. Flusser 1990, 33) - ein Fachmann erkennt sofort, welche Bedeutung die Farben einer Tomographie der Erde auf Satellitenaufnahmen haben, und jeder Bildhersteller sieht noch im Bild die von ihm gesetzten Algorithmen leuchten. Der unbedarfte Bildanalytiker also, will er die Bilder verstehen, hat der Arbeit des Programmierers nachzuspüren, indem er den ´Sprung in der Black Box´ tut.

Da ein guter Programmierer (er setzt Algorithmen neu) ein guter Komputator ist (er nutzt die Algorithmen für Sinnprojekte), ist ein guter Komputator auch ein guter Entzifferer (er durchschaut das Spiel) - und umgekehrt. Programmierer sind die Künstler an der digitalen Basis, denn ohne sie ließe sich nichts komputieren. Erst das Aufzeigen der von ihnen gesetzten Strukturlogik also scheint den Weg freizulegen, der zur ´Genetik der Bildgenese´ führt. Die Programmebene aber sollte mit Bildwahrnehmung nicht zusammenfallen, denn sie erforderte einen Betrachter, der zugleich Programmierer ist. Einerseits kann der die Programme durchschauende Entzifferer zwar in die Tiefe der Bilder eindringen, andererseits aber tut sich der Verdacht auf, daß die Bilder nur von Fachleuten verstanden werden können: daß die Telematie nur für Programmierer einsichtig ist.

Der Entzifferer also mag als Programmanaysator erfahren, wie die Bilder entstanden sind und wie es ´dem Apparat gelungen ist, die Absicht des Komputators zugunsten des Apparatprogramms umzuleiten´. Was aber bleibt dem Entzifferer zu tun: Er wird mit dem eigentümlichen Paradox konfrontiert, daß das Entziffern nichts anderes als Erkenntnis ist. Wer der Bildwerdung nachspürt, geht aufklärerisch vor. ´Erkenntnis´ aber sollte dem ´nachgeschichtlichen Bewußtseinsniveau´ kaum genügen können. Will der Entzifferer verstehen, was die Bilder bedeuten, folgt er dem Linearen, er bleibt der Logik des Schriftlichen verhaftet und überträgt sie in die binäre Sprache. Er grübelt algorithmisch und imaginiert die Bildwerdung strukturell. Ein derartiges Verstehen und Erklären droht das Gesamtkunstwerk Bild analytisch zu zerstören, es erneut ´wegzuerklären´.

Durch die Bildanalyse entgeht der Entzifferer zwar - Abstand beziehungsweise Einblick gewinnend - der Wahrnehmungsoffensive, doch steht er mit dem Strukturen reflektierendem Wissen in der Digitalontologie recht hilflos da, denn das komplexe Meta seiner Erkenntnis wird er rückwirkend kaum in Digitallogik umsetzen können. Während der kritische Zeitungsleser Leserbriefe, Artikel oder Bücher schreibt - und dennoch den Gesetzen des Zeitungsmarkts folgt, wird auch der Entzifferer, nachdem er die Programme aufklärerisch durchschaut hat, nichts anderes tun können als weiterzukomputieren - und folglich den Programmen treu bleiben. Er mag die Programme zwar transzendiert haben, auf der Programmebene aber wird er nur weiterprogrammieren können. Das Entziffern ist damit zwar als ein Entlarven der Programme wichtig, auf der Seite der Handlung aber ist der gegebenen Programmlogik zu folgen. Der Entzifferer wird weiterhin nur Programme programmieren, die rückwirkend Rezipienten - und ihn selbst - programmieren.

 



[1]Dazu Flusser etwas ausführlicher: "Die neuen, robotisierten Gesten sind bereits allerorts zu beobachten: an Bankschaltern, in Ämtern, in Fabriken, in Supermärkten, im Sport, beim Tanz. Bei genauerer Analyse ist die gleiche Stakkatostruktur auch im Denken, etwa in wissenschaftlichen Texten, in der Poesie, in der musikalischen Komposition, in der Architektur, in politischen Programmen zu erkennen. Entsprechend ist es die Aufgabe der gegenwärtigen Kulturkritik, diese Umstrukturierung des Erlebens, Erkennens, Wertens und Handelns in ein Mosaik von klaren und distinkten Elementen aus jedem einzelnen Kulturphänomen herauszuanalysieren. Unter einer derartigen Kulturkritik wird sich die Erfindung der Fotografie als jener Zeitpunkt erweisen, von dem ab alle Kulturphänomene beginnen, die lineare Struktur des Gleichen durch die Stakkatostruktur des programmierten Kombinierens zu ersetzen; also nicht, eine mechanische Struktur anzunehmen, wie dies nach der Industrierevolution der Fall war, sondern eine kybernetische Struktur, wie sie in den Apparaten programmiert ist. Unter einer derartigen Kulturkritik wird sich die Kamera als Ahne alle jener Apparate erweisen, welche daran sind, alle unsere Lebensaspekte, von der äußeren Geste bis in das Innerste des Denkens, Fühlens und Wollens zu robotisieren" (1992b, 64f). Die Entlarvung dieser Rückkoppelung des Apparatischen auf das Verhalten illustriert Flusser am Beispiel der Fotografie. "Der Fotograf hat Macht über die Betrachter seiner Fotografien, er programmiert ihr Verhalten; und der Apparat hat Macht über den Fotografen, er programmiert seine Gesten" (ebd. 29). Der ´Fotoapparat als Prototyp der so bestimmend gewordenen Apparate´ (vgl. 20) zwingt deshalb zu einer Doppelfrage: "Inwieweit ist es dem Fotografen gelungen, das Apparatprogramm seiner Absicht zu unterwerfen ... und umgekehrt: Inwieweit ist es dem Apparat gelungen, die Absicht des Fotografen zugunsten des Apparatprogramms umzuleiten, und dank welcher Methode?" (43). "Solange dies nicht gelingt, bleiben die Fotografien unentziffert und erscheinen als Abbilder von Sachverhalten in der Welt dort draußen, so als hätten sie sich ´von selbst´ auf einer Fläche abgebildet. Derart unkritisch gesehen, erfüllen sie ihre Aufgabe vorzüglich: das Verhalten der Gesellschaft magisch im Interesse der Apparate zu programmieren" (44). Es gilt also, "wer schreiben kann, der kann auch lesen. Aber wer knipsen kann, muß nicht auch unbedingt Fotos entziffern können" (52).

[2]Bezüglich eines einzigen Bildes scheint ein Wahrnehungsvermögen vonnöten, wie es David Bowie im Film ´Der Mann, der vom Himmel fiel´ gelang, in dem er zwanzig Fernsehgeräte gleichzeitig wahrnahm: Im Extremfall der Wahrnehmung werden sogar noch im Rauschen - des Fernsehers nach Sendeschluß - Informationsfraktale auszumachen sein - gewissermaßen als Erinnerung an alle je gezeigten Filme, denn jeder der flackernden Punkte kann eine potentielle Information symbolisieren.

 

 

 

weiter mit: 4. Information als Kritik