1. Der Imperativ des Sinns

 

Obgleich die technischen Bilder ´Hirngespinste´ im Virtuellen sind (vgl. Flusser 1990, 30), werden sie, so Flusser, "den Handlungen als Vorbilder dienen" (ebd. 14), denn geraffte Bilder machen Beziehungen sichtbar. Sie setzen Wahrnehmbares und Wissenswertes bildhaft in Szene zueinander. Raffen ist eine Art Innenschau der Black Box der Speicher, deren Vielfalt an Informationen strukturell gebündelt sichtbar wird. Dabei sind die Verbindungen wichtig, nicht der Sinn des Dargestellten. Noch vor dem Sinn sind die Sinnstrukturen relevant, die den Sinn zusammenhalten. Diese Sichtbarmachung von Verbindungen - eine Art globalen Sehens aller Wissensfraktale - lädt ein zum ´Handeln in Beziehungsfeldern´ (vgl. ebd. 9), zu einer Art ´vernetzter Wahrnehmung´. "Obwohl sie [die Bilder] nur die Oberflächen von Gegenständen zeigen, erlauben sie doch, vorher ungeahnte Zusammenhänge zwischen den Gegenständen zu sehen. Bilder zeigen nicht Sachen, sie zeigen Sachverhalte" (14): Bilderdialoge sind deshalb ihrer Informationsdichte wegen "unendlich reicher ... als es die linearen, ´historischen´ Dialoge je sein konnten" (72). Sie sind inter-aktivierte, verdichtete Megainformationen, die Berge an Informationen gleichzeitig zeigen. Bilddialoge gleichen der kommunikativen Übergabe eines ´kilometerdicken´ bemalten, betexteten, hörenden und collagierten Informationsknäuels. Sie forcieren reichhaltige Konnotationsmöglichkeiten und öffnen ein weites Feld an Reaktionen. 

Während Baudrillard die Gesellschaft am Bild erblinden sieht, hält sie Flusser für flexibel und anpassungsfähig genug, mit den Bildern zu wachsen. Analysiert Baudrillard Zirkulation und Fraktalität als Neurose der Mediengesellschafts, so nutzt sie Flusser als Chance und Weg. Wie Baudrillard sieht zwar auch er das ´Ende des Subjekts´, er sieht es aber durch etwas neues ersetzt: durch das sogenannte Projekt. Das Projekt erstellt kreativ Bilder. "Wir sind nicht mehr Subjekte, die der Welt unterworfen sind, sondern Projekte auf die Welt" (1988, 127). Im Gegensatz zum Subjekt handelt das Projekt projizierend im Bereich des virtuellen, zu raffenden Punktekosmos. Dabei entstehen konkrete Bilder: "Wir gehen von der totalen Abstraktion zurück in die Konkretion. Anstatt zu abstrahieren, konkretisieren wir. Ich glaube nicht, daß man diesen Umbruch, den wir jetzt erleben, radikaler fassen kann, als, so wie ich eben sagte: Wir hören auf, Subjekte zu sein. Die Welt ist uns nicht mehr ein Gegenstand, gegen den wir stoßen, die Welt ist uns jetzt eine Unterlage, ein Schirm, ein Feld von Möglichkeiten, auf das wir Sinn projizieren. Wir neigen uns nicht mehr über die Welt, um sie zu entziffern, sondern wir entwerfen im Gegenteil auf die Welt unsere eigene Bedeutung" (ebd.). Information, diese entropiegefährdete, verderbliche Ware, schließlich will verändert werden. Nicht mehr ´Erforschen´ steht im Zentrum des Interesses, sondern Entwerfen. Das Digital fordert ´sinngebende, imperative Botschaften´ (vgl. ders. 1990, 44).

Die komputierende Lebenseinstellung eines ´Erfinde dich selbst´ freilich ist eine längst gängige Strategie. Ob mit dem Zeitgeist oder wider ihn, aus einem Baukasten bunter Versatzstücke werden auch diesseits des Digitals Identitäten ausgewählt und neue Identitäten kreiert. "Individualisierung", so Ulrich Beck, "meint ... die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen durch andere, in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenflickschustern" (1993, 150). Beck sieht "das Individuum als Akteur, Konstrukteur, Jongleur und Inszenator" (ebd. 151). Die Frage scheint nicht mehr zu sein, was oder wer ich bin, sondern was oder wer ich alles sein kann. Die Möglichkeiten des ´Zusammenflickschusterns´, die Beck noch in der Lebenswelt ortet, aber finden im Interaktiven der elektronischen Kommunikation erst ihre grenzenlose Entfaltung. Vom Spiel mit Pseudonymen bis hin zu ´gender hopping´ - der Inszenierung, ´das andere Geschlecht´ zu sein -, sich als virtuelles Monster zu gebärden oder als Star aufzutreten: das Virtuelle virtualisiert die bislang relativ monolithisch festgelegte Identität zur Hyperidentität. Im Virtuellen darf munter drauflosgedacht, drauflosgehandelt und drauflos´identitätiert´ werden.

Das ´gegen die Entropie engagierte Wesen Mensch´ greift in die Zirkulation der Informationen ein und stellt aus den Informationsfraktalen Unwahrscheinlichkeiten her: Informationen, die negentroptisch Unterschiede bewirken. Die komputierende Bildherstellung schließt vergangene (gespeicherte) und aktuelle Information zu neuer Information kurz, ´bildet´ sie auf den Bildschirmen ´ein´ und ´spielt dadurch mit allen Theorien´ (vgl. Flusser 1990, 107). Der Imperativ der Bilderproduktion fordert dazu auf, als Realitätseffekt beliebig Sinn zu produzieren, wie auch immer gearteten, "konkreten Sinn" (ebd. 34). Dieser Sinn ist ein Flackern der Individualität an die Wände des elektronischen Lagerfeuers. Er folgt nicht dem Anspruch nach Authentizität und ist auch nicht an die lebensweltliche Komplexität gebunden. Der Benjamin´sche Diskurs um Orginal und Authentizität erledigt sich damit umsomehr, als die Welt nicht mehr erkannt werden soll, sondern im luftleeren und bodenlosen Raum des Digitals beliebig designed wird: Es "befreien uns die Tasten vom Zwang, die Welt zu verändern, sie zu überblicken und sie zu erklären, und sie befreien uns für die Aufgabe, der Welt und dem Leben darin einen Sinn zu verleihen" (Flusser ebd. 27f) - besser einen beliebig neuen, als - entropisch - keinen.[1]

Allzu neu freilich ist diese Strategie wiederum keineswegs: Schon die herkömmlichen Medien komputieren in Serien, in Unterhaltungssendungen, Spielfilmen und Sensationsmeldungen beliebig neue Stories. Historien- und Bibelverfilmungen machen aus Geschichte komputierte Kulissenrevuen. Jeder Gag in einer Show, jede Nachrichtenente, ja jede Filmszene ist eine Komputation. Unabhängig vom Inhalt ist das Gütesiegel ´neu´ die Triebkraft des Kreativen: Das ´Do-it-yourself-Medium´ soll die ´Kreativitätsideologie im neuen Medium retten´ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 115).

Das Gegebene, das, was ist, scheint langweilig zu sein, wohingegen interessant ist, was sein könnte. Dem Prinzip des Fortschritts und dem negentropischen Steigerungszwang folgend ´halten die Massenmedien die Gesellschaft wach´ (vgl. Luhmann 1996, 47). Sie wird "im On gehalten" (vgl. Reiss 1995, 66) und ´reizt sich selbst zu ständiger Innovation´ (vgl. Luhmann 1996, 141).[2] Luhmann zufolge ist die ´Unwahrscheinlichkeit längst Institution geworden´ (vgl. ebd. 78), und Sloterdijk sieht in der permanenten Innovation eine ´Mobilmachung der Welt und der Weltbilder, bis an den Punkt, auf dem alles möglich wird´ (1987, 63). Die Netznutzer haben kräftig mitzuhelfen in der Bildproduktion - sie werden zum Informationsarbeiter. Immerhin kommt ihnen das Kreieren neuer Welten selbst zugute: es könnte andernfalls langweilig werden im Cyberspace.

Wissen und Geschichte führt in der digitalen Variante der Komputation aber umsoweniger zu Erkenntnissen, sondern zur ´Erheiterung des Blicks´, als Wissen und Geschichte primär Futter für das algorithmische Kanonenfeuer ist, das - nun interaktiv - die Sinne betört. Dazu Flusser etwas ausführlicher: "Nehmen wir an, die gesamte Weltliteratur sei bereits digital umcodiert, in künstliche Gedächtnisse gelagert und in ihrer ursprünglichen alphabetischen Form ausgelöscht worden. Der künftige ´Leser´ sitzt vor dem Schirm, um die gelagerten Informationen abzurufen. Es geht nicht mehr um ein passives Auflesen (Aufklauben) von Informationsbrocken entlang einer vorgeschriebenen Zeile. Es geht vielmehr um ein aktives Knüpfen von Querverbindungen zwischen den verfügbaren Informationselementen. Es ist der ´Leser´ selbst, der aus den gelagerten Informationselementen die von ihm beabsichtigte Information überhaupt erst herstellt. Bei dieser Informationsproduktion verfügt der ´Leser´ über verschiedene Knüpfmethoden, die ihm von der künstlichen Intelligenz vorgeschlagen werden (gegenwärtig ´Menüs´ genannte Abrufmethoden), aber er kann auch seine eigenen Kriterien dabei zur Anwendung bringen. Und sicherlich ist in Zukunft eine ganze Wissenschaft zu erwarten (Anfänge macht die ´Dokumentationswissenschaft´), die sich mit den Kriterien der Abberufung und dem Knüpfen von Informationsbits beschäftigt ...  Nach unseren gegenwärtigen Les- und Denkart steht etwa ´Aristoteles´ vor ´Newton´. Dem künftigen ´Leser´ hingegen stehen ´Aristoteles´ und ´Newton´ ... gleichzeitig zur Verfügung. Er kann daher beide Systeme zugleich abrufen, und zwar so, daß sie sich überdecken und gegenseitig stören. Im System ´Newton´ wird zum Beispiel die ´Trägheit´ gegen das ´Motiv´ im System  ´Aristoteles´ anstoßen, und das Prinzip ´Gerechtigkeit´ im System des Aristoteles´ wird gegen die Kausalketten im System Newtons stoßen. Der ´Leser´ wird die beiden überlagerten Systeme so manipulieren können, daß Zwischenstadien entstehen, worauf das System des Aristoteles ebenso aus dem Newtons emportauchen kann wie das Newtonsche System aus dem des Aristoteles. Der ´Leser´ wird zwar aus den ihm verfügbaren Daten erfahren, daß tatsächlich das Newtonsche System jünger ist als das des Aristoteles, aber er wird die ´Geschichte´ ebensogut umdrehen können" (1992, 135).

Die Ergebnisse der Komputationen erscheinen mit allen Veränderungen und Verästelungen bildlich, textlich oder graphisch, jedenfalls konkret und sichtbar auf den Bildschirmen. Die Unterschiede der Unwahrscheinlichkeiten verschiedener Zwitterwelten sind dabei an keine höhere Dialektik gebunden, sondern an kybernetische Gewichtungen, die das Digital individuell, kollektiv oder automatisch neu ordnen. Dabei gilt: "Freiheit ist der Überschuß der Zahl von Parametern (Elementen) über die Zahl von Relationen (Regeln), die man braucht, das System zu determinieren" (Moles 1973, 106). Die Freiheit, mit Paramentern zu komputieren, ist bei Abraham Moles die Permutation - ein Synonym zur Komputation. Sie ist "ein fundamentaler Instinkt des rationalen Denkens" (ebd. 104), eines ´Denken´, das über die Neuordnung eines Symbolhaushaltes Sinnersatz fabriziert. Der negentropische ´Instinkt´ des Komputierens nun spielt nicht nur mit Parametern, auch die Regeln selbst sind frei komputierbar. Es sind gerade die Regeln, deren Komputationen auf der Ebene des Programms zu Unwahrscheinlichkeiten führen. Und die Freiheit, auch die Regeln zu komputieren, ist so grenzenlos, wie die ´Verneinung der Welt, nämlich all dessen, was der Fall ist´, grenzenlos sein darf (vgl. Flusser 1990b, 192). Was immer der Fall ist, emanzipiert sich unter dem Fallbeil seiner Bearbeitung von dem, was es war.

Wenn die Welt nicht mehr erforscht, sondern umgekehrt auf sie Bedeutung projiziert wird, dürfte die Welt freilich nicht mehr allzu interessant sein. Ebenso verliert Geschichte an Bedeutung. Da das Gewesene als Fraktalraffung über die Apparate aktivierbar wird, spielt auch jede vordem wichtige Zeitbezogenheit keine Rolle mehr. ´Projekte´ lassen das geschichtliche Territorium und die zeitlichen Dimensionen der Lebenswelt hinter sich: "Wir können die Gegenwart nicht mehr durch die Vergangenheit erklären, denn die Gegenwart ist unser Ausgangspunkt. Für uns ist die Gegenwart nicht mehr zur Vergangenheit offen; sie ist auf die Zukunft hin geöffnet ... Wir können nicht mehr durch Entwicklungskurven, Statistiken und futurologische Voraussagen die Vergangenheit in die Zukunft projizieren ... sondern wir selbst entwerfen uns" (Flusser 1991, 272).

Anstatt einer Identitätssuche im Historischen und anstatt - intellektuell - den ´Leichnam der Geschichte zu obduzieren´ (vgl. Baudrillard 1990b, 46), gilt die Losung, aus der fraktalen Zeitlosigkeit der digitalen Speicher heraus Identitäten als Bild und Bilder als Identität zu kreieren. Dabei ist es einerlei, ob das Komputierte ein Resultat von Informationen aus der Vergangenheit (Feedback) oder von Unwahrscheinlichkeiten der aktuell werdenden Zukunft (Feed-forward) ist. Vergangenheit und Zukunft werden gleichmaßen verwertet. In einer Art schöpferischen Nihilismus nehmen die Apparate die Zukunft vorweg - und sei es als Abfallproblem.[3] Weder die Logik des Sinns noch die Struktur der Zeit bestimmen das Sein, sondern der Fluß des Werdens in Zeitlosigkeit. Dabei denkt das Denken nicht mehr, es rationalisiert vielmehr das Denkbare und Zeigbare im komputativen Spiel des Darstellbaren. - Zurecht prognostiziert Flusser denn auch ein ´Ende des Grübelns´ (vgl. 1991, 272). 

 



[1] Das Komputieren will das Jenseits der Norm. Das Individualisierungskomplott des Komputativen ist eine Freifahrt für mutationsfreudige Draufgänger. Ihnen gilt die Devise: je verrückter, desto cleverer - die Psychologen werden angesichts der Ausdehnung des Individualverständnisses arg in Bedrängnis geraten.

[2]"Wenn man ständig auf Überraschungen gefaßt sein muß", merkt Luhmann an, "mag es ein Trost sein, daß man morgen mehr wissen wird" (1996, 46).

[3]Ein Berliner Radiosender verbreitet bereits ´Nachrichten der kommenden Woche´.

 

 

 

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